Auf den Tod der Elefantenkuh “Jambo”, die 1960 im Zoo Berlin wegen Überfütterung durch die Besucher:innen erkrankte und schließlich eingeschläfert werden musste, folgte eine hitzige Diskussion. Sie drehte sich um den richtigen Umgang mit Tieren in Gefangenschaft und ihre Fütterung. “Jambos” Tod führte ab dem 10. April 1960 zu einem generellen Fütterungsverbot im Berliner Zoo.
Der Tod des Elefanten war nicht der erste Fall, bei dem ein Zootier an den Folgen einer Überfütterung starb. Zootiere mit mitgebrachten Lebensmitteln zu füttern, ist Teil einer langen Geschichte falscher oder übermäßiger Fütterung. Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert war das Füttern durch die Besucher:innen in zoologischen Gärten grundsätzlich erlaubt. Die damaligen Zooführer – kleine, gedruckte Informationshefte – luden die Besucher:innen zum Füttern ein, allerdings schon damals mit Einschränkungen. Der Berliner Zooführer wies bereits 1873 darauf hin, manche Tiere nicht zu füttern und im Hamburger Zoologischen Garten wurden die Besucher:innen ebenfalls schon 1879 “ergebenst und dringend ersucht, nur diejenigen Thiere zu füttern, deren Namen auf den Anschlagtafeln bekannt gemacht sind”.1 Über den Zoologischen Garten Frankfurt hieß es nur wenige Tage nach der Eröffnung 1858: “Nachdem am Sonntage der zoologische Garten eröffnet worden, haben in Folge der von den Besuchern übermäßig gereichten Fütterung die meisten Thiere an verdorbenem Magen gelitten.”2 So musste das Füttern verschiedener Tiere ganz untersagt werden. Mahnungen an den Käfigen bezüglich des Fütterungsverbots sind auch im Zooführer des Tiergartens Schönbrunn 1912 erwähnt. Besonders empfindliche Tierarten wie Menschenaffen, Raubtiere und Seelöwen durften in den meisten Zoos überhaupt nicht gefüttert werden.
Darüber, was den Tieren angeboten werden durfte, wiesen die Zoowegweiser und im Garten aufgestellte Schilder ebenfalls schon früh hin. Elefanten, die genauso wie die Affen bei den Zoogästen besonders beliebt waren, konnten die Berliner:innen mit Brot, Möhren, Apfelsinen, Bananen und Zitronen füttern. Um die “Neigung des Publikums, die Tiere zu füttern, […] in bestimmte Bahnen [zu lenken]”, wurden bei der Erweiterung des Affenhauses 1925 rot gekennzeichnete Vorrichtungen angebracht, wo das Futter hineingelegt werden konnte und die Affen “etwas Intelligenz anwenden müssen”, um es zu ergreifen. Gleichzeitig war in der Nähe ein Futterhäuschen aufgestellt, wo man “geeignetes Futter” kaufen konnte – eine Idee, die laut Geschäftsbericht des Zoos gut ankam und das Füttern zumindest in gewissem Maße regulierte.3
Diskussionen über die Fütterung durch Besucher:innen und Teilverbote in zoologischen Gärten innerhalb und außerhalb von Deutschland waren schon lange präsent, doch führte die Mehrzahl der Zoos erst in den 1950er Jahren ein generelles Fütterungsverbot ein – nachdem sich die Erkrankungen und Tode, die auf Überfütterung zurückgingen, gerade in den gut besuchten Sommermonaten häuften. Als am 1. Juni 1953 ein erst kürzlich neu erworbener Elefant im Frankfurter Zoo an den Folgen der Überfütterung durch die Besucher:innen verendete, beschloss der damalige Direktor Bernhard Grzimek, das Füttern der Zootiere durch Besucher:innen komplett zu verbieten. 1957 folgte der Leipziger Zoo und 1959 der Zoologische Garten zu Münster, nachdem auch dort mehrere Tiere gestorben waren.4 Im gleichen Jahr wurde die Frage auf der jährlichen Tagung des Verbands Deutscher Zoodirektoren diskutiert, der ein generelles Fütterungsverbot beschloss.
Die Einführung eines generellen Fütterungsverbots war jedoch nicht unumstritten, wie Pressemeldungen und Zuschriften an die Zoos belegen. Da viele Zoobesucher:innen seit Jahren daran gewöhnt waren und die Tiere ihrerseits Futter erwarteten, stießen die Forderungen der Zoos vielerorts, von Frankfurt über Leipzig bis Berlin, zunächst auf Widerstand.5 Das Beispiel Berlin zeigt, wie langwierig und schwierig die Durchsetzung eines solchen Verbots war.
Zunächst hoffte der Zoo, mit Teilverboten auszukommen.
In den Allgemeinen Richtlinien für die Fütterung der Tiere durch die Besucher für den Zoo Berlin heißt es noch 1960:
“Es ist aber unbedingt erforderlich, daß wenigstens diese Teilverbote, die nur besonders empfindliche Tierarten betreffen bzw. nur die Verwendung schädlicher Futtersorten untersagen, strikt eingehalten werden. Falsche oder zu reichliche Fütterung hat schon bei vielen Tieren zu schweren Gesundheitsstörungen, zu Zuchtuntauglichkeit und oft genug zu einem qualvollen Ende geführt. Wir bitten unsere Besucher daher dringend, die Hinweise zu beachten.”7
Die Verantwortung wird in die Hände der Besucher:innen gelegt. Es handelt sich noch um eine Bitte, einen moralischen Appell. Als kurz darauf auch hier ein generelles Verbot eingeführt wurde, musste dies erst einmal publik gemacht, durchgesetzt und akzeptiert werden. Was heute selbstverständlich erscheint, bedurfte damals einer ausführlichen Erklärung:
“Haben Sie bitte Verständnis für diese im Interesse der Gesunderhaltung unserer Tiere getroffenen Maßnahme, und geben Sie etwa mitgebrachtes Futter unbedingt am Empfang für die dort aufgestellten Sammelbehälter ab. – Bei dem heute so sehr stark angestiegenen Besuch unserer Tiergärten ist es nicht mehr möglich, die unter großen Mühen beschafften und herangezogenen Tiere der gutgemeinten, aber unkontrollierbaren Fütterung durch das Publikum auszusetzen.”8
Nicht nur steigende Besuchszahlen wurden hier ins Feld geführt. Es ging auch um den Anspruch einer artgerechten Tierhaltung, Quantität und Qualität des Futters an die Fressgewohnheiten der Tiere anzupassen. Eben dieses Wissen sollte den Besucher:innen vermittelt werden:
“Auch wenn Ihr Futter Ihnen einwandfrei erscheint, würden doch immer wieder schwere Erkrankungen und Todesfälle dadurch eintreten, daß zu viele Menschen füttern; auch wenn nur jeder zehnte Besucher eine Kleinigkeit reicht, käme im Laufe des Tages eine gewaltige Menge zusammen! Ein Tier, das z.B. normalerweise mit Heu und Hafer ernährt wird, gerät in Lebensgefahr, wenn es bei starkem Zoobesuch auf einmal pfundweise Brot, Obst oder Küchenabfälle erhält! Die Ansicht: ‘Jedes Tier weiß, was und wieviel ihm bekommt’, ist leider falsch, und manches Zootier hat deswegen schon ein qualvolles Ende nehmen müssen.”9
Im Zooführer von 1960 wurde nach dem Beschluss des Verbots den nun veralteten Fütterungsregeln zuerst behelfsmäßig ein roter Stempel aufgedrückt. Im nächsten Jahr war das Regelwerk dann komplett überarbeitet. Auf das Verbot wies der Wegweiser von nun an gleich am Anfang in der Gartenordnung oder in der einleitenden Ansprache hin. Im Garten selbst waren außerdem Schilder direkt an den Gehegen angebracht.
Damit das Fütterungsverbot eingehalten wurde, verteilte man im Frankfurter und Berliner Zoo Handzettel und stellte mehrsprachige Tafeln auf: ”Füttern 25,- DM und Gartenverbot”. Im Ostberliner Tierpark drohte ebenfalls eine Geldstrafe. Trotzdem wurde das Verbot gerade in der ersten Zeit immer wieder missachtet.10 Im Fütterungsverbot kristallisierte sich ein Interessenkonflikt zwischen artgerechter Tierhaltung, Bildungsanspruch und dem Bedürfnis nach Unterhaltung und einem unmittelbaren Kontakt mit den Tieren. Für die zoologischen Gärten standen dabei das Tierwohl und nicht zuletzt auch ökonomische Fragen auf dem Spiel. Elefanten wie “Jambo” waren wertvolle Tiere und ihr Tod ein entsprechend hoher finanzieller Verlust. Gleichzeitig ließen sich mit dem Verbot an anderer Stelle Einsparungen machen – im Stuttgarter Zoo, so berichtete der Tagesspiegel, waren seit Einführung eines Fütterungsverbots die Arzneimittelkosten um ein Drittel gesunken.11
Für die Zoogäste veränderte sich mit dem Verbot wiederum die Beziehung zum Tier. Der Berliner Zoo musste unzählige Mahnungen und Verweise aussprechen, da Besucher:innen die Tiere trotz des Verbots weiter fütterten. Die Debatte drehte sich immer wieder um Emotionen, denn in der Fütterungsfrage kulminierte damals wie bei kaum einem anderen Thema die Frage nach der ‘Tierliebe’.
Lange Zeit und insbesondere in den Nachkriegsjahren galt als ‘Tierfreund’ vor allem,12 wer fütterte und darin seine Sorge um die Tiere bekundete . Mit den Fütterungsverboten tritt ein anderes Verständnis der ‘Tierfreundschaft’ auf den Plan, das beispielsweise auch den Umgang mit Löwenbabys veränderte und sich zugleich in einer gewandelten Einstellung zum eigenen Fütterungsverhalten äußert.
Für viele drückte sich nun die Liebe zum Tier und die Sorge um dieses gerade in Zurückhaltung aus, in der Zurückstellung des eigenen Fütterungswunsches: “Auch wir bedauern das traurige Ende von Jambo und begrüßen das Fütterungsverbot. Anders ist ja den Berlinern mit ihrer übertriebenen Tierliebe nicht beizukommen”,13 hieß es in einer anonymen Zuschrift an den Zoo. Gehörte zuvor das bereitwillige Geben zu den zentralen Tugenden des ‘Tierfreunds’ im Zoo, war es nun die Selbstbeherrschung, von der die Gesundheit der Tiere abhängig gemacht wurde. Das Füttern – zumal das übermäßige – wurde nun als ‘falsche Tierliebe’ bewertet.14 Das war Teil eines umfassenderen Wandels, den die Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely so erklärt, dass der zuweilen recht aufdringliche ‘Tierfreund’ sich zunehmend eine Auffassung aneignet, bei der der Mensch ganz bewusst in den Hintergrund rückt – ein Prozess, der erst um die Jahrtausendwende weitestgehend vollzogen ist.15
Der Berliner Zoo griff die Rhetorik der ‘Tierfreundschaft’ in den 1960ern ebenfalls auf, um das Fütterungsverbot durchzusetzen. Er setzte damit nicht nur auf Disziplinarmaßnahmen in Form von Verbotsschildern, sondern ebenso auf das moralische Gewissen:
“Der wirkliche Tierfreund behält auch ohne Zuckertüte den Kontakt mit seinen Lieblingen und freut sich, wenn die Tiere nicht mehr den ganzen Tag nur bettelnd am Gitter stehen, sondern gesund und unbeschwert ein naturgemäßes Leben führen.”16
In der Tat waren gerade die besonders zahmen, an Mensch und Futter gewöhnten Tiere besonders gefährdet. 1959, als das Füttern grundsätzlich noch erlaubt war, hatte der Zoo sich bereits “während der Osterfeiertage dazu entschließen müssen, bei einigen ganz zahmen Tukanen das Füttern grundsätzlich zu verbieten”.17
Auf die ‘Tierliebe’ berief sich der Zoo zudem, wenn er seine Besucher:innen mit einer “besonderen Bitte” dazu aufforderte, aktiv zur Durchsetzung der Zooregeln beizutragen. Auch dies galt bereits, als es noch um Teilverbote ging:
“Besondere Bitte: Wahre Tierfreunde beweisen ihre Tierliebe und achten zusammen mit unseren Beamten darauf, daß kein Besucher die Fütterungsverbote bei bestimmten Tieren mißachtet. Es wäre bedauerlich, wenn die Direktion, um dem unerlaubten Füttern Einhalt zu tun, schließlich ein allgemeines Fütterungsverbot ergehen lassen müßte.”
Das nahmen viele Menschen beim Wort und so erhielt der Zoo in den ersten Monaten nach Einführung des Verbots zahlreiche Zuschriften wie diese:
“[…]die Liebe zu den Tieren veranlaßt mich, Ihnen zu klagen, was ich bei meinem Zoobesuch am vergangenen Sonnabend erlebt habe. Ein etwa sechsjähriger Junge gab einem Elefanten Poppcornflocken [sic]. Meinen Hinweis auf das Fütterungsverbot verstanden er und sein Vater nicht, ich hörte, dass sie englisch sprachen. Aber ich meine, dass auch ein Ausländer wissen sollte, dass man die Tiere nicht füttern soll. […] Ich will diese Dinge zur Kenntnis bringen in der Hoffnung, dass Sie sich vielleicht doch veranlasst sehen, von derartigen unvernünftigen Menschen eine Geldstrafe zu erheben. Ich stehe keineswegs allein mit meiner Ueberzeugung, dass nur eine solche, nicht aber einfaches Bitten und Verbieten, für die Dauer Erfolg hat, zum Wohl unserer geliebten Tiere.”18
Eine weitere anonyme Schreiberin berichtete von drei Damen, die sie beim Elefantengehege beobachtet hatte. “Eine davon fütterte in einem fort, und als ich wütend sagte, sie soll das unterlassen, denn es steht doch überall angeschrieben, wird sie noch frech, – ich habe ja meinen Bauch voll, aber die Tiere hätten Hunger, und ich sollte mal machen, das [sic] ich weiterkomme. Dabei warf sie wieder 1 ganzen gerösteten Zwieback hin.” Die Schreiberin schloss ihren Brief mit den Worten: “Wenn Sie es für gut befinden, das die Frau füttern darf, dann will ich den Zoo nie wieder besuchen. […] Eine tierliebe Zoobesucherin.”19
Diese und andere Vorfälle heizten die Diskussion um die richtigen Maßnahmen zur Umsetzung des Fütterungsverbots weiter an. Die Vorschläge aus der Bevölkerung reichten von der Einführung von Wachpersonal über Geldstrafen bis zum Zooverweis.
Andere Vorschläge richteten sich statt auf die Disziplinierung der Menschen auf die Wandlung der Architektur:
“Wäre es nicht angebracht”, schrieb eine Besucherin nach dem Tod eines See-Elefanten, “ringsherum u. oben Maschengitter anzubringen, oder die Basins mit Scheiben zu umgeben u. oben mit Drahtgitter zu versehen, sodaß es unmöglich ist, auch nur das Geringste durchzustecken! Fütterungsverbot zwecklos, man muss die Tiere stattdessen so abschirmen, daß Todes- oder Krankheitsfälle nicht mehr vorkommen.”20
In der Tat spielte die Architektur der Gehege eine wichtige Rolle für das Verhältnis zwischen Besucher:innen und Tieren. In den frühen 1930er Jahren waren im Gefolge der Hagenbeck’schen Freigehege die Gitterstäbe vieler Ausläufe durch Gräben ersetzt worden. 1930 rühmte sich auch der Zoologische Garten Berlin, seine Anlagen zu “entgittern”.21 Der so geschaffene Abstand schuf aber noch nicht unbedingt Kontaktlosigkeit – und das war auch nicht intendiert. Vielmehr war der Graben in der Elefantenanlage in Berlin so schmal gehalten, “daß die Tiere mit dem Rüssel dem Besucher Brot aus der Hand abnehmen können”, wie es Zoodirektor Lutz Heck beschrieb.22 Auch das Nilpferdbecken erlaubte noch eine direkte Tuchfühlung und erleichterte das Füttern durch die Besucher:innen, wie eine Fotografie aus der illustrierten Zeitschrift Die Woche im Bild zeigt.
Ende der 1950er Jahre kam das nicht mehr in Frage. Bei den Elefanten wurden die mitgebrachten Lebensmittel eingesammelt.
Bei der Planung des neuen Affenhauses kamen in den frühen 1960er Jahren sogar Glasscheiben zum Einsatz. Mit Ausnahme der Menschenaffen konnten die Affen bis dahin mit Brot, Südfrüchten, verschiedenen Gemüsesorten, Nüssen, Haferflocken und Linsen gefüttert werden.23 Zwischenzeitlich war sogar Popcorn erlaubt – just in dem Jahr, als ein Popcornstand im zoologischen Garten eröffnete.24
Mit dem allgemeinen Fütterungsverbot von 1960 änderten sich auch die Richtlinien für die Affen und später die Architektur der Anlage – aus Hygiene- und Sicherheitsgründen. Damit veränderte sich das Verhältnis von Nähe und Distanz. Das befürworteten manche Besucher:innen in ihren Zuschriften, doch gab es ebenso die gegenteilige Meinung. Zoobesucherin Erna von Bongart etwa schrieb, ihrem Empfinden nach sollten Affen nicht isoliert werden:
“[Man sollte die Affen,] die seit langen Jahren mit langjährigen Abonnenten in engem Kontakt stehen, wie z.B. der kl. Bubi, nicht so völlig absperren. […] ich finde es doch nicht richtig bei den Tieren, die an menschlichen Kontakt all die Jahre gewöhnt, diese strikten Absperrungsmassnahmen vorzunehmen. Auch darf man nicht vergessen, wieviel einsame Menschen es gibt, man nimmt auch ihnen einen Teil ihres Lebensinhalts, ihrer Freuden.”25
Im Zoo selbst schienen Direktion und Mitarbeiter:innen zunächst ebenfalls hin- und hergerissen. Ein öffentlicher Zoo sei Direktor Heinz-Georg Klös zufolge “für die Tiere und die Menschen da”, weshalb man zu Kompromissen gezwungen sei. “Sind die Tiere z.B. allzusehr hinter Glas, Gitter und Absperrungen ‘verbarrikadiert’, fehlt dem Besucher – vom Füttern jetzt ganz abgesehen – das unmittelbare Erlebnis, der Kontakt.” Gleichzeitig schrieb Klös in seiner Antwort auf den Brief einer Zoobesucherin: “[W]ir werden nach und nach unsere wertvollsten Tiere hinter Glas halten. Dann kann unerlaubtes Füttern nicht mehr vorkommen noch den Tieren von Besuchern irgendwelche Seuchen übertragen werden.”26 Wird die Verantwortung den Menschen übertragen oder an Dinge delegiert, die Grenzen zu ziehen, Kontakte zu beschränken und Nähe zu verhindern?
Unter Zoodirektor:innen wurde über das Thema schon länger beratschlagt. 1928 führte “[e]ine Diskussion über die Absperrung der Affen vom Publikum durch Glaswände” auf der 40. Konferenz mitteleuropäischer Zoologischer Gärten indes noch zu “keinem einheitlichen Ergebnis”.27 Mit der sukzessiven Umstellung der Gehege-Architekturen, die eine unmittelbare Berührung unterbanden, wurden Tiere und Besucher:innen getrennt. Die Umstellung reduzierte den Kontakt mit den Tieren auf den Blick und setzte dem Füttern durch die Besucher:innen endgültig ein Ende,28 was sich für viele Tiere als gesundheitsfördernd erwies, denn bereits wenige Jahre nach Einführung des generellen Fütterungsverbots sank der Medikamenten- und Behandlungsbedarf spürbar.29 Im Menschenaffenhaus kamen schon in den frühen 1960er Jahren trennende Glasscheiben zum Einsatz – eine Praxis, die heute weit verbreitet ist.30 Gleichzeitig wurde die Futterküche offengelegt: “Durch große Scheiben kann das Publikum in die Futterküche hineinsehen und die Tierpfleger bei der Zubereitung [...] beobachten.”31 Mitte der 1970er Jahre, als nach dem Menschenaffenhaus das Affenhaus renoviert wurde, trennten auch dort Glasscheiben statt Eisengitter die Tiere vom Publikum, die zugleich eine freiere Sicht und unmittelbaren Blickkontakt ermöglichten. Das Verhalten vieler Tiere begann sich zu normalisieren; sie bettelten nicht mehr nach Futter, wenn sich ein Mensch näherte. Die Zoodirektor:innen berichteten davon, dass weniger Tiere an Verdauungsstörungen litten oder sogar daran eingingen.32 “Es ist eine Freude, die Tiere nach Einführung des Fütterungsverbotes in ihrer natürlichen Lebensweise und Verspieltheit zu beobachten”,33 hieß es in einer anonymen Zuschrift an den Berliner Zoo. Wie diese gab es viele positive Stimmen, die interessanterweise durch die neue Distanz den Zoo wieder als Ort des Natürlichen auswiesen und das Betteln der Tiere eben nicht mehr als natürliches Verhalten ansahen. Hier zeigt sich, wie sich Vorstellungen des ‘Natürlichen’ historisch wandeln können.
- Edwin Hennings. Katalogirter Führer durch den Berliner Zoologischen Garten, 6. Aufl. Berlin: A. Seidel, 1873: 2. Der Hamburger Zooführer wies auf die Tafeln explizit hin. Vgl. Heinrich Bolau. Führer durch den Zoologischen Garten zu Hamburg, 29. Aufl. Hamburg: Verlag der Zoologischen Gesellschaft Hamburg, 1879: o.S.↩
- D. Backhaus. “Die Eröffnung des Gartens im Jahre 1858”. In Hundertjähriger Zoo in Frankfurt am Main, Zoologischen Garten der Stadt Frankfurt am Main (Hg.). Frankfurt a.M.: 1957.↩
- Actien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin. Geschäftsbericht für das Jahr 1925. Berlin: 1926.↩
- Anfang 1956 informierte ein Bericht der Leipziger Volkszeitung über die Einführung eines generellen Fütterungsverbots: “Die meisten der vom Publikum für ihre Lieblinge mitgebrachten Leckerbissen sind für die Tiere ungeeignet, in vielen Fällen sogar schädlich. [...] Oft stellen sich dann Uebelkeit und Darmerkrankungen ein und ärztliche Behandlung muß die verdorbenen Mägen wieder kurieren. Leider geht es aber nicht jedesmal ‘gut’ ab, und wir haben schon wertvolle Tiere auf diese Art und Weise verloren. Im Interesse der Gesunderhaltung unserer Pfleglinge muß deshalb eine unsachgemäße Fütterung unterbleiben.” Dittrich, Lothar. “Nicht mehr füttern!” Leipziger Volkszeitung, Januar 1956, zit. nach: Mustafa Haikal und Jörg Junhold. Auf der Spur des Löwen: 125 Jahre Zoo Leipzig. Leipzig: Pro Leipzig e.V., 2003: 181.↩
- Tagung des Verbands Deutscher Zoodirektoren vom 18. Juni bis 20. Juni 1959. Protokoll der Geschäftssitzungen, AZGB V 1/4; Benjamin Lamp. Entwicklung der Zootiermedizin im deutschsprachigen Raum. Giessen: VVB Laufersweiler, 2009: 178.↩
- Im Berliner Zooführer tauchen Giraffen 1956 das erste Mal in den Fütterungsrichtlinien auf mit dem Hinweis, dass es generell verboten ist, sie zu füttern.↩
- Heinz-Georg Klös. Wegweiser durch den Zoologischen Garten Berlin 1960. Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin, 1960.↩
- Heinz-Georg Klös. Wegweiser durch den Zoologischen Garten Berlin 1961. Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin, 1961.↩
- Ebd. Rund zehn Jahre später war das etabliert und der Zooführer vermerkte lediglich: “Das Füttern ist grundsätzlich untersagt. Bei rund 2,5 Millionen Besuchern im Jahr würden, wenn jeder auch nur einen kleinen Brocken reicht, derartig große Futtermengen zusammenkommen, daß die Tiere Schaden nehmen müssen. Gut gemeint, aber unkontrolliertes Füttern kann sogar den Tod zur Folge haben.” Heinz-Georg Klös. Wegweiser durch den Zoologischen Garten Berlin 1975. Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin 1975.↩
- Vgl. Anonyme Zuschrift an die Direktion des Zoologischen Gartens Berlin, 08.08.1966, AZGB O 0/1/224; H. Gottheim an die Direktion des Zoologischen Gartens Berlin, 16.04.1960, AZGB O 0/1/112; Zoologischer Garten Berlin an M. Hingst, 20.07.1960, AZGB O 0/1/112; C. Hübner an die Direktion des Zoologischen Gartens Berlin, o.D., AZGB O 0/1/112; Direktion des Zoologischen Gartens Berlin an C. Hübner, AZGB O 0/1/112.↩
- “Füttern im Zoo von heute an verboten”. Tagesspiegel, 31.03.1960.↩
- Bei ‘Tierfreund’ verwende ich keine genderneutrale Form, weil ich auf einen damals feststehenden Ausdruck Bezug nehme. Zur Figur des ‘Tierfreunds’ vgl. Christina Wessely. Löwenbaby. Berlin: Matthes & Seitz, 2019; Nastasja Klothmann. Gefühlswelten im Zoo: Eine Emotionsgeschichte 1900-1945. Bielefeld: transcript, 2015: 201-220.↩
- Anonymer Brief an die Direktion des Berliner Zoologischen Gartens, 11.04.1960, AZGB O 0/1/112.↩
- Vgl. “Falsche Tierliebe”. Gießener Anzeiger, 16.04.1960.↩
- Wessely, 2019: 59.↩
- Klös, 1961: 8.↩
- Zoologischer Garten Berlin an M. Günther, 06.04.1959, AZGB O 1/2/80.↩
- M. Hingst an den Zoologischen Garten Berlin, 12.07.1960, AZGB O 1/2/81.↩
- Anonyme Zuschrift an die Direktion des Zoologischen Gartens Berlin, 08.08.1966, AZGB O 0/1/224.↩
- A. Irmler an H.-G. Klös, 21.09.1959, AZGB O 1/2/80.↩
- H. Beatz. “Der Zoo wird entgittert”. Morgenpost Berlin, 22.02.1930. Die Umgestaltung war ein internationales Phänomen. Im Londoner Zoo etwa setzte sich ab 1936 der Biologe Julian Huxley als neuer Zoodirektor für einen Abbau der Einzäunungen ein.↩
- Lutz Heck. Führer durch den Zoologischen Garten zu Berlin 1931, Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin, 1931: 5.↩
- Lutz Heck. Wegweiser durch den Zoologischen Garten Berlin. Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin, 1936.↩
- Vgl. Katharina Heinroth. Der Zoologische Garten Berlin: Zweiter Bericht und Wegweiser nach dem Kriege 1956. Berlin: Aktien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin, 1956: 8.↩
- E. von Bongardt an die Direktion des Zoologischen Gartens Berlin, 01.10.1959, AZGB O 1/2/81.↩
- H.-G. Klös an C. Hübner, 13.05.1959, AZGB O 1/2/80.↩
- 40.Konferenz der Direktoren mitteleuropäischer Zoologischer Gärten in Breslau vom 23. bis 25. August 1928, AZGB V 1/10.↩
- Ausnahmen bilden heute die Streichelzoos, vormals übernahmen dies Tierkinderzoos.↩
- Vgl. u. a. Christoph Scherpner. Von Bürgern für Bürger: 125 Jahre Zoologischer Garten Frankfurt am Main. Frankfurt a.M.: Zoologischer Garten, 1983: 145.↩
- Vgl. Christina May. Die Szenografie der Wildnis: Immersive Techniken in zoologischen Gärten im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Neofelis Verlag, 2020.↩
- Heinz-Georg Klös und Ursula Klös. Der Berliner Zoo im Spiegel seiner Bauten, 1841-1989: Eine baugeschichtliche und denkmalpflegerische Dokumentation über den Zoologischen Garten Berlin. Berlin: Heenemann, 1990: 237.↩
- Tagung des Verbands Deutscher Zoodirektoren vom 18. Juni bis 20. Juni 1959. Protokoll der Geschäftssitzungen, AZGB V 1/4.↩
- Vgl. Anonyme Zuschrift an den Zoologischen Garten Berlin, September 1960, AZGB O 0/1/224; Scherpner, 1983: 145.↩