Klassifizierung von Cycladophora

Story Taxonomie jenseits der Tierwelt

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Clara Ehrenbergs Index, 1860er Jahre. Source: Museum für Naturkunde Berlin, http://download.naturkundemuseum-berlin.de/Ehrenberg/

Christian Gottfried Ehrenberg1 war in den 1850er Jahren ein angesehener Naturforscher und einer der führenden Experten für jenes Studienobjekt, das man damals als Infusorien bezeichnete und das wir heute als Mikroorganismen kennen. Dank seines guten Rufs und vieler Kontakte hatte er sich ein weltweites Netzwerk von Partner:innen unter den bekanntesten zeitgenössischen Naturforschenden aufgebaut, die ihm Proben aus aller Welt für seine mikroskopischen Analysen und Studien schickten. Als er also an seinem Arbeitsplatz, der zoologischen Sammlung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, acht Flaschen mit aus Taliaferro Preston Shaffners Erkundungen stammenden Tiefsee-Sedimentproben erhielt, wusste er genau, was zu tun war. Er machte sich daran, die Proben zu waschen und zu filtern, um sie anschließend unter dem Mikroskop zu analysieren. Auf diese Weise identifizierte und klassifizierte er mehrere verschiedene in den Proben enthaltene Mikrofossilien. Darunter befand sich auch Cycladophora davisiana: eine mikroskopisch kleine Kieselschale, der einzige Überrest eines vor langer Zeit eingegangenen Mikroorganismus. Wie bei all seinen Proben platzierte er die Mikrofossilien auf Objektträgern aus Glimmer (analog zu heutigen Glasobjektträgern) und überzog sie mit Kanadabalsam, einem zähflüssigen Harz, das mit der Zeit erstarrt, während seine Transparenz erhalten bleibt, und welches bis heute zur Konservierung von Proben verwendet wird.2

Nachdem Ehrenberg sich mit Shaffner über seine Ergebnisse ausgetauscht hatte, präsentierte er sie 1861 vor der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im Folgejahr wurden sie in den Monatsberichten der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin veröffentlicht: bis heute gelten sie als die Standardbeschreibung von C. davisiana. Und obwohl Ehrenbergs Beschreibung für die heutigen taxonomischen Ordnungen noch immer die favorisierte Referenz darstellt, stieß seine Klassifizierung aufgrund des sich zu jener Zeit abzeichnenden Wandels im Verständnis von Mikroorganismen schnell auf erhebliche Kritik. Im selben Jahr, in dem Ehrenbergs Beschreibung von Cycladophora veröffentlicht wurde, publizierte ein anderer junger deutscher Naturforscher, Ernst Haeckel, eine auf seiner Dissertation basierende, überaus erfolgreiche und elegante Monografie über Radiolarien. Haeckels beeindruckende Illustrationen und seine detaillierten Beschreibungen in diesem Buch sowie die darin vorgenommene Neuklassifizierung dieser Mikroorganismen anhand der Prinzipien von Charles Darwins Evolutionstheorie, machten den Autor schnell zu einem der führenden Experten für Radiolarien. Neben der Tatsache, dass das Buch dem Ansehen Haeckels zuträglich war, der ein glühender Anhänger Darwins war und dessen Lehre verbreitete, wurde mit ihm zugleich die ästhetische Tradition der Visualisierung in der Naturkunde fortgesetzt, indem die aufwendige Bebilderung nun auch den Wundern der mikrobiellen Welten zuteilwurde.3

Im Gegensatz zu Ehrenberg, der Infusorien für vollwertige Tiere hielt, die, genau wie größere Tiere, über komplexe innere Organe verfügten, betrachtete Haeckel sie als einzellige Vorfahren komplexerer Lebensformen. Dieses Verständnis baute auf der damals in Deutschland aufkommenden Zelltheorie auf, die Ehrenberg rundheraus ablehnte. Doch während Haeckel versuchte, die Radiolarien (einschließlich C. davisiana) in ein natürliches System einzuordnen, das ihre eigene Evolutionsgeschichte widerspiegelte, gelangte er zu der Überzeugung, dass ihre evolutionären Veränderungen langsam vonstattengingen. Zudem nahm er an, dass Radiolarienarten ein großes Verbreitungsgebiet aufwiesen und im Laufe der geologischen Geschichte des Planeten weitgehend unverändert geblieben waren. In Haeckels detailliertem Bericht zu den Radiolarien, den er im Rahmen der Expedition der HMS Challenger verfasste, wurde diese Annahme bestätigt. Haeckel verbannte die Radiolarien damit unbeabsichtigt beinahe in eine mikropaläontologische Sackgasse, da sich Naturforschende auf andere, als interessanter und nützlicher angesehene Arten konzentrierten. Als die Exemplare der Ehrenberg-Sammlung zunehmend verblichen und in Vergessenheit gerieten, verschwand auch Cycladophora davisiana aus dem Blickfeld. Zumindest bis andere Wege der Nutzung sie fast ein Jahrhundert später wieder zum Vorschein brachten.4


  1. Es gibt mehrere Biografien zu Ehrenberg. Um einen guten Überblick zu erhalten, siehe David M. Williams und Robert Huxley. Christian Gottfried Ehrenberg (1795-1876): The Man and His Legacy. London: Acad. Press, 1998. Die Einleitung ist online verfügbar unter: https://ca1-tls.edcdn.com/Special-Issue-1-Christian-Gottfried-Ehrenberg-1795-1876-The-Man-and-His-Legacy-Small.pdf?mtime=20160715141137 (03.01.2022). Eine deutsche Biografie findet sich online unter: Johannes v. Hanstein. “Ehrenberg, Christian Gottfried”. In Allgemeine Deutsche Biographie 5, 1877: 701-711. https://www.deutsche-biographie.de/pnd118529250.html#adbcontent (03.01.2022).
  2. Die Präparation war erfolgreich, denn das Originalexemplar von C. davisiana befindet sich noch heute neben vielen anderen mit Kanadabalsam überzogenen Präparaten auf Glimmerplättchen in der Ehrenberg-Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin.
  3. Der in Haeckels 1904 erschienenem Buch Kunstformen der Natur ersichtliche ästhetische Wert seiner Illustrationen setzte die von Goethe begonnene Tradition fort, das Wissen über die Natur und ihre Ästhetik zusammenzuführen. Siehe auch Robert J. Richards. The Tragic Sense of Life: Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago und London: University of Chicago Press, 2009.
  4. Zur Geschichte dieser Sammlung und ihrer Kuratierung, siehe David Lazarus. “The Ehrenberg Collection and its Curation”. In Christian Gottfried Ehrenberg (1795-1876): The Man and His Legacy. D.M. Williams und R. Huxley (Hg.). London: Acad. Press, 1998: 31-48. Zu den Auswirkungen dieser frühen Phase der mikropaläontologischen Taxonomie, siehe Lazarus, David. “The Legacy of Early Radiolarian Taxonomists, with a Focus on the Species Published by Early German Workers”. Journal of Micropalaeontology 33 (2014): 3-19.
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