Nutzung von Cycladophora

Story Von Mikrofossilien zu planetarem Wissen

desc

Diagramm aus dem 1976 in Science veröffentlichten Artikel von John D. Hays et al., der die Häufigkeit von Cycladophora mit glazialen Zyklen in Zusammenhang setzt. (Alle Rechte vorbehalten.)

Trotz der frühen Bemühungen um die Klassifizierung der Cycladophora in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Interesse an dieser Art (und an Radiolarien im Allgemeinen) bis zur Jahrhundertwende stark nachgelassen. Dies lag zumindest teilweise an den Sackgassen, in die Ernst Haeckels Studium der Radiolarien geführt hatte. In der Folge blieb Cycladophora ein Randphänomen in den Naturwissenschaften, bis William Rex Riedel, ein junger Doktorand, in den 1950er Jahren Haeckels Material einer Neubewertung unterzog. Riedel bemerkte schnell, dass der deutsche Naturforscher Radiolarien aus jüngerer Zeit mit älteren vermischt hatte. Die von Haeckel für Radiolarien angenommenen, großen stratigrafischen Reichweiten waren somit falsch und die Mikroorganismen zudem nützliche Lieferanten stratigrafischer Informationen, so wie auch die Foraminiferen, die schon seit 1921 für die industrielle Mikropaläontologie genutzt wurden. Die technischen Entwicklungen der Kriegszeit ermöglichten es Forschenden darüber hinaus, anhand stratigrafischer Tabellen ein genaueres Bild von der Evolution der Radiolarienarten zu erhalten. Und da der Kalte Krieg die Finanzierung ehrgeiziger wissenschaftlich-technischer Projekte rechtfertigte, erstreckte sich die Erforschung der Ozeane bereits in den 1960er Jahren auf den gesamten Globus – insbesondere ab dem Beginn von JOIDES und verschiedener Tiefsee-Bohrprojekte. Dank Riedel, der großen Anteil an diesen Entwicklungen hatte, wurde Radiolarien im Zuge der Wiederentdeckung der marinen Mikropaläontologie endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Als die Forschung zu Mikrofossilien immer stärker Eingang in die Ozeanografie fand, offenbarten Radiolarien schließlich ihr Potenzial, zu einem besseren Verständnis der Tiefenzeit und der Dynamiken unseres Planeten beizutragen. Aufgrund der Verbreitung in kalten Gewässern in höheren geografischen Breiten spielt Cycladophora davisiana in dieser Geschichte über Mikroben und Planeten eine besonders wichtige Rolle.

Bis in die 1950er Jahre waren Foraminiferen das wichtigste Werkzeug der Biostratigrafie. Doch aufgrund ihrer karbonatbasierten Biochemie sind Foraminiferen-Gehäuse (auch ‘Test’ genannt) in den Sedimenten höherer Breiten nicht gut erhalten. Radiolarien sind dagegen dank ihrer kieselhaltigen Tests in diesen Sedimenten weiter verbreitet und besser erhalten. Zudem ist die Häufigkeit von Cycladophora wegen ihrer klimatischen Präferenzen und Verbreitungsgebiete an glaziale und interglaziale Temperaturschwankungen gebunden. Aus diesen Gründen wurde Cycladophora davisiana insbesondere für die Erforschung der Dynamiken eiszeitlicher Zyklen schnell zu einem wichtigen stratigrafischen Analyseinstrument. Der stetig wachsende Bestand an Daten und Sedimentproben, ermöglicht durch Tiefseebohrungen, war ausschlaggebend für den Erfolg von Cycladophora als wissenschaftliches Werkzeug. Dieser beeindruckende Gesamtbestand wissenschaftlicher Daten ist Teil der langjährigen Bemühungen der Naturkunde, die Welt zu verzeichnen, und liefert Wissenschaftler:innen Material für umfassendere Analysen. Um diese Daten zu organisieren und ordnen, wurden seit den 1990er Jahren eine Reihe von Datenbanken erstellt, die nun in der Datenbank des Museums für Naturkunde Berlin zusammenlaufen. Sie umfasst über 700.000 Datensätze aus den verschiedenen Tiefsee-Bohrprojekten. Der durch Big Data erzielte bessere Zugang und die einfachere Handhabung bestehenden Wissens leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Aufbereitung unseres Planeten und seiner komplexen Dynamiken und Systeme als wissenschaftliches Studienobjekt.1

Anhand des Beispiels von C. davisiana lässt sich dieser Umbruch in den Naturwissenschaften gut veranschaulichen. Frühe Studien zu diesem Mikroorganismus konzentrierten sich zunächst auf seine Beschreibung und Klassifizierung innerhalb einer Ordnung der Natur, später innerhalb einer universellen Genealogie des Lebens. Doch mit dem Aufkommen der industriellen Mikropaläontologie standen zunehmend nicht mehr die Mikrofossilien selbst im Mittelpunkt des Interesses, sondern ihre Eigenschaft als Indikator bei der Erkundung und Bewertung stratigrafischer Gegebenheiten. Mit Beginn der 1950er Jahre wurde auch Cycladophora auf diese Weise genutzt, da Dokumentationen ihres Vorkommens bei der Datierung bestimmter Formationen und Sedimente helfen konnten. Angesichts eines immer umfassenderen Mikrofossilberichts und der Entwicklung neuer Methoden wuchs auch die Fülle der mit Hilfe von Cycladophora gewonnenen Erkenntnisse exponentiell. Vor dem Hintergrund der bahnbrechenden Entwicklungen in der Datenverarbeitung und Rechenleistung im Zuge der digitalen Revolution waren Wissenschaftler:innen nun in der Lage, Phänomene von ganz neuer Größenordnung nachzuvollziehen, wie die Verläufe tektonischer Plattenbewegungen, Magnetfeldverschiebungen oder die Abfolge von Eiszeiten. Im Jahr 1976 wurde beispielsweise in einer wegweisenden, im Journal Science veröffentlichten Studie die Häufigkeit von Cycladophora davisiana aus zwei ozeanischen Bohrkerne (zusammen mit der Sauerstoffisotopenfraktionierung von Foraminiferen-Gehäusen) genutzt, um die hypothetische Beziehung zwischen Eiszeitzyklen und der planetaren Orbitaldynamik zu demonstrieren.2 Gemeinsam mit darauf aufbauenden Folgestudien legte diese Untersuchung die Basis für die aktuelle Klimaforschung sowie für ein planetares Denken, das die Erde und ihre Biosphäre als Ganzes betrachtet.

Auf diese Weise setzt sich das wissenschaftliche (Nach-)Leben von Cycladophora davisiana als vielgenutztes Hilfsmittel in der aktuellen Klimaforschung fort.3 Kürzlich hat das Museum für Naturkunde Berlin die Lamont-Doherty-Sammlung, eine Sammlung mikropaläontologischer Präparate, als Neuzugang für seine NSB-Datenbank erhalten. Solche digitalen Datenbanken haben inzwischen frühere Verzeichnissysteme wie Tagebücher des Zoologischen Museums, Inventarbücher oder Karteikarten weitgehend abgelöst. Mit Erhalt der Lamont-Doherty-Sammlung, die auch die Originalpräparate aus der Science-Publikation von 1976 enthält, ist Cycladophora nun in verschiedenen medialen Formen unter einem Dach vereint und steht für zukünftige Forschungen bereit.


  1. Manche Wissenschaftler:innen scheinen jedoch ihre Zweifel zu haben, ob eine wirkliche Verbesserung von Klimamodellen und -vorhersagen ohne andere Formen und Methoden der Datenverarbeitung überhaupt gelingen kann. Siehe P. Bauer et al. “The Digital Revolution of Earth-System Science”. Nature Computational Science 1 (2021): 104-113. https://doi.org/10.1038/s43588-021-00023-0.
  2. James D. Hays, John Imbrie und Nicholas J. Shackleton. “Variations in the Earth’s Orbit: Pacemaker of the Ice Ages”. Science 194 (1976): 1121-1132. https://doi.org/10.1126/science.194.4270.1121
  3. Paul Edwards. A Vast Machine: Computer Models, Climate Data, and the Politics of Global Warming. Cambridge: MIT Press, 2010.
Tiere als Objekte? Eine Webseite des Forschungsprojekts “Tiere als Objekte. Zoologische Gärten und Naturkundemuseum in Berlin, 1810 bis 2020”, herausgegeben von Ina Heumann und Tahani Nadim. Datenschutzerklärung | Impressum