Seit den ersten mikroskopischen Beobachtungen im 17. und 18. Jahrhundert hat die Entwicklung neuer Instrumente und Techniken immer wieder neue Einblicke in unerwartete und komplexe mikrobielle Welten ermöglicht. Anfangs erschien die Vielfalt mikrobiellen Lebens noch derart chaotisch und unbestimmbar, dass der schwedische Botaniker Carl von Linné, der Begründer der modernen biologischen Systematik, im Jahr 1766 kurzerhand entschied, dass alle mikroskopische Organismen der Sammelkategorie des chaos infusorium zuzuordnen seien.2
Doch im Zuge der voranschreitenden taxonomischen Erfassung der Natur insbesondere im 19. Jahrhundert bemühten sich Naturforschende um ein klareres Verständnis von dieser kaum erkennbaren und doch unfassbar vielfältigen Welt der Mikroben. Zum Ende des Jahrhunderts stellte sich die enorme Vielzahl mikrobieller Lebensformen schon weniger chaotisch dar: Die Verbesserung der mikroskopischen Medien ermöglichte die Beobachtung wiederkehrender Strukturen, was die Vorstellungskraft der Forschenden beflügelte und auf die Existenz von Ordnungen von Mikroorganismen hindeutete. Zu dieser Zeit entstanden in der Tat viele Ansätze zur Beschreibung und Klassifizierung mikrobieller Organismen – zusammengefasst unter der Sammelkategorie der Infusorien. Diese Ansätze waren meist an die taxonomische Ordnung größerer und besser erforschter Lebensformen angelehnt. Doch die Werkzeuge und Bezugsrahmen der frühen Taxonomie erwiesen sich als unbrauchbar: Angesichts grundlegender Veränderungen im Verständnis vom Wesen der Mikroorganismen wurden die meisten frühen Klassifikationssysteme rasch verworfen und durch neue ersetzt. Und auch heute noch verblüffen uns Mikroorganismen und geben uns immer wieder Rätsel auf.
Die Veränderungen im Verständnis von mikrobiellem Leben waren prägend für das Forschungsgebiet, das heute als Mikropaläontologie bekannt ist. Naturforschende dokumentierten eine beeindruckende Vielzahl an Organismen, denen sie – den Regeln der binären Nomenklatur und den jeweiligen taxonomischen Ordnungen entsprechend3 – lateinische Namen gaben, die bis heute Gültigkeit besitzen. Doch während die frühen Forschenden ihre Spuren in zahlreichen Artnamen hinterlassen haben, wie z.B. Cycladophora davisiana, wurden die von ihnen entwickelten Ordnungsmodelle, Klassifizierungssysteme und Hypothesen über mikrobielles Leben meist noch zu ihren Lebzeiten widerlegt. Dies gilt auch für die Wissenschaftler Alcide d’Orbigny und Christian Gottfried Ehrenberg, die nicht selten als ‘Väter’ der Mikropaläontologie bezeichnet werden. Alcide d’Orbigny wird zugeschrieben, in den 1820er Jahren erstmalig eine Systematisierung und Klassifizierung der Foraminiferen ausgearbeitet zu haben (eine Methode, die später für die Mikropaläontologie unverzichtbar wurde). Allerdings waren seine Schlussfolgerungen weniger akkurat als seine Beschreibungen. Er hielt die Foraminiferen für Kopffüßer, und wenngleich er diese Annahme später revidierte, so hielt er an seiner überaus kontroversen These fest, dass die Vielfalt unter den Foraminiferen das Ergebnis von insgesamt 27 verschiedenen Schöpfungsakten sei.4 Im Unterschied zu d’lOrbigny konzentrierte sich Ehrenberg nicht auf eine bestimmte Gruppe, sondern nahm stattdessen die gesamte Vielfalt und Bandbreite der Infusoria in den Blick. Im Jahr 1838 veröffentlichte er seine viel beachtete Monografie Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen. Gestützt auf detallierte Abbildungen argumentierte er darin gegen das vorherrschende hierarchisierende Ordnungsprinzip der Taxonomie, wie es der damals führende französische Paläontologe Cuvier vertrat. Für Cuvier stand der Mensch an der Spitze einer sogenannten ‘scala naturae’, einer natürlichen, stufenartigen und hierarchischen ‘Kette von Lebewesen’, die im ‘Menschen’ ihren höchsten Ausdruck gefunden habe. Aufgrund der Einsichten, die er bei einer früheren Studie über die Entstehung von Pilzen aus Sporen gewonnen hatte, lehnte Ehrenberg die Theorie der ‘Spontanzeugung’ entschieden ab – jene weitverbreitete Vorstellung, dass ‘niedere Tiere’ spontan aus anorganischer Materie entstünden.
In seinem Bestreben, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Auffassungen davon, was Leben sei, etwas entgegenzusetzen, argumentierte Ehrenberg, dass sämtliche Infusorien tatsächlich vollständige Tiere seien. Bei seinen mikroskopischen Beobachtungen hatte er Mägen und andere Organe in Mikroorganismen identifiziert, für ihn ein klarer Beleg für seine These. Durch diesen Standpunkt nahm sein Ruf in der Folge nachhaltig Schaden, insbesondere da er sich zeitlebens hartnäckig weigerte anzuerkennen, dass seine These hinreichend widerlegt worden war. Obwohl er in seiner zweiten Monografie aus dem Jahr 1854 mit dem Titel Mikrogeologie bereits die Kernfragen der Mikropaläontologie umriss, blieb seinen Forschungen die gebührende Anerkennung noch bis ins folgende Jahrhundert versagt. Obwohl d’Orbigny und Ehrenberg mit ihren akribischen und umfangreichen Beschreibungen von Mikroorganismen eine gewisse internationale Bekanntheit erlangten, brachten ihnen ihre Schlussfolgerungen bereits zu Lebzeiten scharfe Kritik ein. In den 1850er Jahren hatte sich das Verständnis der Wesensart mikrobieller Organismen grundlegend verändert.5
- Carl von Linné. Systema Naturae, editio 12, reformata. Holmiae: Laurentii Salvii, 1766. https://www.biodiversitylibrary.org/item/137240#page/800/mode/1up (03.01.2022).↩
- Für eine Beschreibung einer weiteren Sammelkategorie der Linné’schen Vermes, siehe Stephen Jay Gould. The Lying Stones of Marrakech. Cambridge: Harvard University Press, 2000. http://www.jstor.org/stable/j.ctt2jbrgf↩
- Zum Einfluss dieser frühen Beschreibungen siehe David Lazarus. “The Legacy of Early Radiolarian Taxonomists, with a Focus on the Species Published by Early German Workers”. Journal of Micropalaeontology 33, Nr. 1 (2014): 3-19.↩
- Eine ausführliche Erläuterung des Arguments findet sich in: Alcide Dessalines d’Orbigny. Foraminifères fossiles du bassin tertiaire de Vienne (Autriche). Paris: Gide et Compe, 1846. https://doi.org/10.5962/bhl.title.145432.↩
- Siehe z.B. Frederick B. Churchill. “The Guts of the Matter: Infusoria from Ehrenberg to Bütschli, 1838-1876”. Journal of the History of Biology 22, Nr. 2 (1989): 189-213. https://doi.org/10.1007/BF00139512.↩