Im August 1866 gingen Fischern vor der holländischen Küste einige Pfeilschwanzkrebse ins Netz. Ungewöhnlich an diesem Beifang war, dass die Art Limulus polyphemus (Linnaeus 1758) bis dahin vor allem im Nordatlantik, nicht aber in europäischen Gewässern bekannt gewesen war.1 Wie waren die Tiere in die Nordsee gelangt und woher wissen wir heute davon? Oder anders gefragt: Wie kam das Wissen über ihre Verbreitung zustande und wie verbreitete es sich?
Ins Meer ausgesetzt: Vom Aquarientier zum Überschuss
Lebende Pfeilschwanzkrebse sind unter anderem durch den Aquarienhandel nach Europa gekommen, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Zu dieser Zeit war die erfolgreiche Verschickung lebender Wassertiere noch durchaus sensationell. Landtiere wurden bereits für die Menagerien des 18. und die zoologischen Gärten des frühen 19. Jahrhunderts lebend importiert. Im Gegensatz dazu beschränkte sich der Transfer von Wassertieren bis dahin überwiegend auf konservierte Tiere, die mit Handels- oder Passagierschiffen in Häfen eintrafen und von dort in naturkundliche Sammlungen oder in die Hände von Privatleuten gelangten. Während Seeleute in Hafenstädten wie Hamburg schon lange Zeit naturkundliche Museen, private Sammler:innen und den Naturalienhandel mit Wassertieren versorgten, nahm der Versand lebender Tiere erst Mitte des 19. Jahrhunderts merklich Aufschwung, als sich der Aquarienhandel von England ausgehend in Europa und darüber hinaus verbreitete.2
Die Frage, welche Arten sich als Aquarientiere und damit als Handelsobjekte durchsetzten und welcher Wert ihnen zugeschrieben wurde, hing von der Nachfrage, aber ebenso von praktischen Faktoren wie der Transportierbarkeit und Überlebensfähigkeit der Tiere ab. Denn zu jener Zeit überlebten bei weitem nicht alle Tiere die häufig monatelange Seereise. Im Jahr 1900 galt es unter Aquarianer:innen noch als “anerkannte Thatsache, dass es viel leichter ist Elefanten lebend einzuführen, als einen fingerlangen Fisch”.3 Die besondere Herausforderung beim Transport lebender Wassertiere bestand darin, dass für die meisten zumindest eine Minimalumwelt geschaffen werden musste. Das war nicht nur aufwendig und verursachte hohe Kosten, sondern erforderte auch spezifische Kenntnisse der jeweiligen Lebensbedingungen einer Art und auch das Wissen, physikochemische Variablen beeinflussen zu können.
Pfeilschwanzkrebse waren im Gegensatz zu vielen anderen Meerestieren äußerst widerstandsfähige Tiere. Als William Lloyd 1865, der für die Beschaffung der Tiere im neu eröffneten Hamburger Aquarium zuständig war, beim Tierhändler Carl Hagenbeck Pfeilschwanzkrebse von der Küste um New York für das neu eingerichtete Meerwasseraquarium im Hamburger Zoologischen Garten orderte, bemerkte er dazu:
“We apply the term ‘hardy’ to such crabs as Limulus […] and by ‘hard’ we undefinedly mean that these animals are constructed to live for long periods when they are not actually immersed in water.”4
Die Tiere konnten in Bottichen oder Kisten mit nassem Sand transportiert werden, der nur ab und an befeuchtet werden musste. Sie eigneten sich daher besonders gut für den überseeischen Import, da die Versandkosten um ein Vielfaches geringer ausfielen als bei der Verwendung von Transportkannen mit Wasser.5 In den 1870er Jahren waren Pfeilschwanzkrebse bereits in öffentlichen Aquarien in Hamburg, Hannover und Berlin zu sehen. Im Fall jener Pfeilschwanzkrebse, die Lloyd für das Hamburger Aquarium erstand, wurde die Widerstandsfähigkeit der Tiere regelrecht zum Problem: “[T]he success with which they were brought over led to my getting many more than the Hamburg Aquarium could accommodate.”6 Nachdem er einige der überzähligen Exemplare weiterverkauft und verschenkt hatte, übergab er die restlichen Tiere – heimlich, wie er angibt – dem nächsten Dampfer von Hamburg nach London mit der Anweisung, sie vor Helgoland über Bord zu werfen.7 Die Widerstandsfähigkeit der Pfeilschwanzkrebse führte also dazu, dass überschüssige Tiere im Meer ausgesetzt wurden. Aquarienhandel und Schifffahrt zählten damit – und zählen noch heute – zu den Vektoren für eine globale Verbreitung von Arten nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb von Aquarien.
Aus dem Meer gefischt: Vom Beifang zum Wissensding
Als Lloyd ein Jahr später von dem Fang der Pfeilschwanzkrebse vor der holländischen Küste erfuhr, zweifelte er nicht daran, dass es sich hier um die Exemplare seiner heimlichen Freisetzung (oder deren Nachkommen) handelte.8 Die Fischer überwiesen ihre Funde an Naturforscher:innen und wurden so Teil eines naturkundlichen Beobachtungs- und Sammelnetzwerks. Die Pfeilschwanzkrebse wechselten auf diese Weise ein weiteres Mal den Raum und zugleich ihren Status: Im Netz der Fischer wurden sie von einem Überschussprodukt des Handels zum Wissensding.
Wissenschaftliche und populäre naturkundliche Zeitschriften berichteten von den Funden und Sichtungen von Pfeilschwanzkrebsen. Auch Lloyd hatte von jenen Tieren vor Helgoland durch einen Bericht erfahren. Um die gleiche Zeit berichtete der Naturkundler Thomas Southwell in der Zeitschrift The Zoologist von Pfeilschwanzkrebsen, die von Fischkuttern bei Yarmouth an der kanadischen Küste und vor North Wales gefangen worden waren,9 worüber auch eine Notiz in Land and Water erschien.10 In Deutschland wiederum berichtete ein gewisser Dr. C. Lohmeyer in der Emdener Zeitung von einem Exemplar, das Garnelenfischern bei Norderney aus dem Meer fischten. Diese Nachricht wurde in den Mittheilungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Frankfurt erneut geteilt.11 So wie sich die Tiere in den Weltmeeren verbreiteten, verbreitete sich auch das biogeografische Wissen über ihre Bewegungen in Texten. Die Pfeilschwanzkrebse wanderten vom Meer durch das Aquarium in die Wissenschaft.
Historisches Wissen aus dem 19. Jahrhundert über die Verbreitung von Arten bildet heute eine wichtige Ressource für die Erfassung und Analyse von Biodiversitätsveränderungen. Das gilt etwa für sogenannte ‘Neozoen’ – Tierarten und untergeordnete Taxa, die sich durch (bewusste oder unbeabsichtigte) menschliche Einflussnahme in einem Gebiet etabliert haben, in dem sie zuvor nicht heimisch waren. Nachzulesen sind diese Informationen in Berichten zur “Bestandsaufnahme und Bewertung von Neozoen in Deutschland”, die vom Umweltbundesamt oder von einzelnen Ländern in Auftrag gegeben werden.12 Dafür sind die Informationen der Fischer und Berichte wie der von Lloyd aus dem 19. Jahrhundert heute wichtig. Sie helfen, die Wege von Tieren durch Raum und Zeit und die Art und Weise ihrer Verbreitung zu rekonstruieren. Die von Lloyd ausgesetzten Tiere etwa werden in diesen Berichten als Erstnachweis des Pfeilschwanzkrebses in der Nordsee aufgeführt. Sein Bericht ist zur historischen Quelle für die Rekonstruktion einer Verbreitungsgeschichte von Limulus polyphemus geworden, die in der Hauptsache eine Geschichte des Aquarienhandels und der Schiffstransporte ist. Denn das Beispiel von Lloyds Pfeilschwanzkrebsen macht deutlich, welche zentrale Rolle anthropogene Faktoren wie der Ausbau von Transport- und Handelsinfrastrukturen in der Verbreitung von Tieren und Arten spielt, und zwar innerhalb wie außerhalb von Aquarien. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es weitere Sichtungen von Pfeilschwanzkrebsen vor deutschen Küsten. In den 1960er Jahren etwa sind sporadisch Einzelfunde in der Nordsee und Ostsee belegt; insgesamt wurden zwischen 1968 und 1976 mindestens 18 Exemplare dokumentiert.13 Heute wird davon ausgegangen, dass all diese Funde auf durchfahrende Schiffe zurückzuführen sind, vermutlich Fischtrawler vor der nordamerikanischen Atlantikküste, die die Tiere im Meer freiließen.14 Nicht nur im Fall von Lloyds Limuli, die mit dem Aquarienhandel importiert und anschließend ausgesetzt wurden, ist die Präsenz des Pfeilschwanzkrebses in der Nord- und Ostsee somit eine unmittelbare Folge von Handel und Schifffahrt.
Bislang gibt es indes keine Hinweise darauf, dass sich Pfeilschwanzkrebse im deutschen oder im niederländischen Küstengebiet dauerhaft etablieren konnten.15 Aquarienhandel und Schifffahrt haben dort nicht zu einer nachhaltigen Verbreitung (einer sogenannten ‘Einbürgerung’) der Art geführt. In vielen anderen Fällen konnten dagegen Tiere, die etwa im Ballastwasser von Schiffen unbemerkt transportiert oder von Aquarianer:innen ausgesetzt wurden, neue Populationen ausbilden und sich an neuen Standorten etablieren, wie etwa die Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis), die in den 1910er Jahren das erste Mal in Aller und Elbe gesichtet wurde und heute weit verbreitet ist. Pfeilschwanzkrebs und Wollhandkrabbe – in beiden Fällen spielt der Mensch die wichtigste Rolle in ihrer Verbreitung. Und das gilt nicht nur für Verbreitungsvektoren wie die Schifffahrt, sondern auch für die durch den Menschen geschaffenen oder veränderten Umwelt- und Lebensbedingungen am jeweiligen Ort, die die Grundlage für die ‘Einschleppung’ wie auch Bedrohung von Arten schaffen. So ist der atlantische Pfeilschwanzkrebs inzwischen als ‘bedrohte Art’ eingestuft, was mit dem kommerziellen Fang der Tiere für Aquarienhandel, Fischerei (wo Pfeilschwanzkrebse als Köder eingesetzt werden) und Biomedizin zusammenhängt. Hinzu kommen der Verlust von Laichhabitaten,16 die Veränderungen der Küsteninfrastruktur an der US-amerikanischen Ostküste und der anthropogene Klimawandel.17 Ähnliche Faktoren spielen umgekehrt eine Rolle bei der Frage, wie sich Arten an neuen Standorten ansiedeln. Um diese räumlichen und zeitlichen Veränderungen der Biodiversität zu verstehen, ist ein langfristiger Blick notwendig. Eben hierfür sind historische Quellen wichtig, die über die Verbreitung von Tieren und die Veränderungen der Umwelt durch den Menschen informieren. Präparate und Sammlungsdaten ebenso wie Berichte von Fischern können dazu beitragen, die Verbreitungswege von Tieren und Wissen nachzuvollziehen, mit ihrer Hilfe mittel- und langfristige Veränderungen zu erfassen und dadurch aktuelle Dynamiken und zukünftige Dimensionen abschätzen zu können.
- Das Ursprungsgebiet des Pfeilschwanzkrebses Limulus polyphemus (der kein echter Krebs ist, sondern aus zoologischer Sicht heute zu den Spinnentieren gezählt wird), ist die nordamerikanische Atlantikküste. Das Hauptverbreitungsgebiet reicht vom südlichen Kanada über Maine im Norden der USA bis nach Yucatan.↩
- Aquarientiere konnte man schon nach kurzer Zeit über ein weit verzweigtes und zunehmend institutionalisiertes Netzwerk der Aquaristik beziehen, das Händler und Importeure, Fischer und private Liebhaber:innen, zoologische Gärten und Forschungsinstitutionen, öffentliche Schauaquarien und Züchtereien umfasste; vgl. Mareike Vennen. Das Aquarium: Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018; Christian Reiß. Der Axolotl: Ein Labortier im Heimaquarium. Göttingen: Wallstein, 2019.↩
- Paul Nitsche. Der Import von lebenden Fischen: Rathschläge und Winke für die Einführung von Reptilien, Amphibien, Seewasserthieren und Wasserpflanzen für Aquarien- und Terrarienzwecke. Berlin: Selbstverlag des Verfassers, 1901: 112.↩
- William Alford Lloyd. “On the Occurrence of Limulus Polyphemus off the Coast of Holland, and on the Transmission of Aquarium Animals”. The Zoologist: A Monthly Journal of Natural History 9 (1874): 3845-3855, 3850.↩
- Vgl. Lloyd, 1874; Alfred Brehm. Führer durch das Berliner Aquarium: Eine kurze Beschreibung der in ihre zur Schaugestellten Thiere. Berlin: Verlag des Berliner Aquariums, 1870: 83-84.↩
- Lloyd, 1874: 3845.↩
- Ebd.: 3846.↩
- Im Sommer 1873 wurden vier oder fünf lebende Exemplare elf Kilometer seewärts der niederländischen Insel Terschelling von Fischern gefangen, die sich nach Wolff (1977) möglicherweise auf die Helgoländer ‘Population’ zurückführen lassen, wovon auch Lloyd damals ausging. Vgl. Lloyd, 1874: 3846-47; T. Wolff. “The Horseshoe Crab Limulus polyphemus in North European Waters”. Videnskabelige Meddelelser fra Dansk Naturhistorisk Forening 140 (1977): 39-52.↩
- Thomas Southwell. “King Crab off the Dutch Coast”. The Zoologist. A Monthly Journal of Natural History 8 (1873): 3740.↩
- Land and Water, 26.04.1873.↩
- Zit. nach Ernst Huth. “Der Pfeilschwanz (Limulus Polyphemus) in der Nordsee”. Monatliche Mittheilungen des Naturwissenschaftlichen Vereins des Regierungsbezirks Frankfurt 4, Nr. 19 (1886/87): 20.↩
- Vgl. beispielsweise Olaf Geiter, Susanne Homma und Ragnar Kinzelbach. Bestandsaufnahme und Bewertung von Neozoen in Deutschland: Untersuchung der Wirkung von Biologie und Genetik ausgewählter Neozoen auf Ökosysteme und Vergleich mit den potenziellen Effekten gentechnisch veränderter Organismen. Berlin/Rostock: Umweltbundesamt, 2001.↩
- Das Tier, das ein Fischer im Juli 1972 in der Nähe der ostfriesischen Insel Spiekeroog lebend gefangen hatte, wurde sogar über vier Jahre lang im Wilhelmshavener Aquarium gehalten, bis es im Oktober 1976 verstarb. Wolff, 1977; vgl. weiterhin Stephan Gollasch. “A Horseshoe Crab Limulus polyphemus Found on Sylt Germany in 1970. Een degenkrab Limulus polyphemus gevonden op Sylt Duitsland in 1970”. Zeepaard 67 (2007): 79-81; Stephan Gollasch. “An Additional Record of the Horseshoe Crab Limulus polyphemus in the North Sea. Aliens”. Journal of the Invasive Species Specialist Group of the IUCN Species Survival Commission 22 (2005): 11.↩
- Vgl. Stephan Gollasch und Stefan Nehring. “National Checklist for Aquatic Alien Species in Germany”. Aquatic Invasions 1, Nr. 4 (2006): 245-269; Stefan Nehring und Heiko Leuchs. “Neozoa (Makrozoobenthos) an der deutschen Nordseeküste: Eine Übersicht”. Bericht Bundesanstalt für Gewässerkunde Koblenz. BfG-1200 1999: 1-131.↩
- Vgl. Gollasch und Nehring, 2006; Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein (LLUR) (Hg.). Neobiota in deutschen Küstengewässern: Eingeschleppte und kryptogene Tier- und Pflanzenarten an der deutschen Nord- und Ostseeküste. Flintbeck: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 2014: 108.↩
- Nancy L. Jackson, David R. Smith und Karl F. Nordstrom. “Physical and Chemical Changes in the Foreshore of an Estuarine Beach: Implications for Viability and Development of Horseshoe Crab (Limulus polyphemus) Eggs”. Marine Ecology Progress Series 355 (2008): 209-218. https://doi.org/10.3354/meps07211.↩
- Robert E. Loveland und Mark Botton. “Sea Level Rise in Delaware Bay, USA: Adaptations of Spawning Horseshoe Crabs (Limulus polyphemus) to the Glacial Past, and the Rapidly Changing Shoreline of the Bay”. In Changing Global Perspectives on Horseshoe Crab Biology, Conservation and Management. Ruth H. Carmichael u.a. (Hg.). New York: Springer, 2015: 41-64.↩