Logistische und metabolische Kreisläufe
Logistik bezeichnet die soziotechnische Organisation, durch die Güter, Menschen und Informationen zirkulieren. Seit ihren Anfängen hat sich die Naturkunde zu einem systematischen Unterfangen entwickelt, die Natur als Ganzes in taxonomischen Ordnungen zu erfassen. Die Naturkunde war hierfür schon immer auf Logistik angewiesen: Um die Natur zu ordnen, mussten Objekte gesammelt, präpariert, erforscht und klassifiziert werden. Der universalistische Anspruch der Naturkunde ist allerdings nicht nur auf die verschiedenen Logistikkanäle angewiesen, sondern prägt und formt diese zugleich auch. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie dieser Ko-Produktionsprozess von Natur und Gesellschaft abläuft, erscheint es sinnvoll, die Logistik mit einem weiteren Kreislaufsystem zusammenzudenken: dem Metabolismus oder Stoffwechsel. Der Begriff bezieht sich zunächst auf die biologischen, physiologischen und physikochemischen Prozesse zur Umwandlung von Stoffen in und durch Lebewesen. Stoffwechselvorgänge bezeichnen also die Verwandlung von Materie durch Einverleibung und Verarbeitung. Doch “obwohl Metabolismus wortwörtlich die Umwandlung von Materie von einer Form in eine andere Form bezeichnet und der Begriff meist verwendet wird, um natürliche Systeme zu beschreiben, wie z.B. die biochemischen Prozesse in den Zellen von Organismen, bietet er einen Zugang, der auch auf die Organisation von Städten und urbanem Leben angewendet werden kann”.1 Die Idee einer kontinuierlichen Erneuerung wurde nicht nur auf Städtebau, Architektur und das Soziale übertragen. Sie ist, so lässt sich hinzufügen, auch auf die Organisation der Naturkunde sowie der Gesellschaft im Allgemeinen anwendbar. Für Karl Marx bildet die Vorstellung eines Metabolismus den Kern seines materialistischen Verständnisses sozioökonomischer und historischer Dynamiken. Die Frage, wie Material-, Energie- und Kapitalströme unseren Planeten formen und umformen, ist entscheidend für eine Neubestimmung unseres Verhältnisses zur Natur unter den Bedingungen des Klimawandels.2
Für unsere Frage danach, wie Tiere in Objekte der Wissenschaft, Lehre und Schaulust verwandelt wurden (und weiterhin werden), erweist es sich als äußerst lohnend, Logistik und Metabolismus zusammen zu denken und als analytisches Konzept für die hier untersuchten Verwandlungen fruchtbar zu machen. Der Grund dafür ist, dass sich beide auf Ströme beziehen – Ströme, die jedoch ansonsten getrennt gedacht werden: Während die Logistik vermeintlich die für moderne Gesellschaften grundlegende technische Beförderung von Menschen, Waren und Informationen organisiert, wird der Begriff ‘Metabolismus’ (bzw. ‘Stoffwechsel’) meist als natürlicher Kreislauf verstanden, in dem Nährstoffe, Materie und Energie durch und zwischen verschiedenen Organismen und ihrer Umwelt umgewandelt werden. Trotz der offenkundigen Unterschiede halten wir die beiden Konzepte aufgrund ihrer Parallelen dennoch für geeignet, uns Kreisläufe weniger als ununterbrochene Ströme vorzustellen, sondern als Diskontinuitäten, die mit allen möglichen Verwandlungen und Transmutationen einhergehen. Mit Blick auf die Verbindung des technischen Managements von Lieferketten mit organischen Stoffwechselprozessen zeigt sich die Entwicklung der Naturkunde als historische Verquickung von soziotechnischen und biogeochemischen Transformationen, die bis heute andauern. Anstatt natürliche und technische Kreisläufe als klar voneinander getrennte Dimensionen darzustellen, sind die historischen Entwicklungen, mit denen wir uns hier befassen, eher von einer Verflechtung aus beiden gekennzeichnet, was das Konzept der ‘logistischen Metabolismen’ zu einem geeigneten Ansatz macht, um die Verwandlung von Tieren in Objekte nachzuzeichnen. Wenn wir uns sowohl die Logistik als auch Stoffwechselprozesse nicht als reibungslose, ununterbrochene Flüsse, sondern als Prozesse vorstellen, die durch die vielen Übersetzungen und Unterbrechungen, die sie ausmachen, überhaupt erst möglich gemacht werden, stellen wir fest: In beiden geht es um Leben und Tod. Sobald wilde Tiere in Bewegung gesetzt und über weite Distanzen transportiert werden, werden ihre metabolischen Bedürfnisse und Prozesse in die Sprache der Logistik übersetzt: Wenn Tiere nicht ausreichend gefüttert und gepflegt werden, dann sterben sie, und ihre Körper werden in andere Logistikkanäle eingespeist, um sie zu entsorgen. Im Gegenzug konnte – wie Berichte vom 17. bis ins 19. Jahrhundert zeigen – der Tod eines Tieres auf einem Schiff, mit dem es in einen Zoo oder eine Sammlung gebracht werden sollte, zur Überlebenschance für ein anderes werden, da tote Tiere häufig an die (über-)lebenden verfüttert wurden. Wie auch in diesem Beispiel vollziehen wir in den folgenden Geschichten die Wege von Tieren über und durch logistische und metabolische Netzwerke nach, um den Materialitäten jener Transformationen nachzugehen, um die es auf dieser Website geht.
Das Ineinandergreifen von logistischen und metabolischen Prozessen steht im Mittelpunkt der hier betrachteten institutionellen Netzwerke: Zoos, Museen, Sammlungen und wissenschaftliche Datenbanken bewegen und verarbeiten in verschiedenen Zuständen befindliche Tierkörper. Das Bild eines logistischen Metabolismus bietet somit eine sehr treffende Beschreibung der Beziehungen zwischen diesen Institutionen – und erinnert uns daran, dass sich alles stets im Wandel befindet. Wir konzentrieren uns hier auf zwei bestimmte Schauplätze logistischer und metabolischer Kreisläufe, die für uns von zentraler Bedeutung sind: das Meer und die Stadt. Die Bedeutung des Meeres ist offenkundig, da die meisten frühen Tiertransporte per Schiff erfolgten. Die oftmals langen Überfahrten stellten lange logistische Herausforderungen dar, nicht zuletzt aufgrund der Nahrung, die sowohl Tiere als auch Menschen benötigten und um die sie nicht selten konkurrierten. Der zweite hier betrachtete Kontext logistisch-metabolischer Ströme ist die Stadt: Zoos und Museen sind eingebunden in städtische Versorgungs- und Verkehrsnetze und stehen darüber hinaus mit Strömen von Besucher:innen und Behörden – kurz: mit der Stadtgesellschaft – in Beziehung. Zu Krisenzeiten werden diese Verbindungen besonders sichtbar – nicht selten, da sie in solchen Zeiten abbrechen. So hatten Zoos in Krisenzeiten wie Kriegs- und Nachkriegsjahren meist große Probleme, ihre verbleibenden Tiere am Leben zu erhalten, vor allem aufgrund von Futtermittelknappheit. Der Nahrungsmangel nach dem Zweiten Weltkrieg traf Zootiere und Menschen in Berlin gleichermaßen und beide unterlagen einer strengen Lebensmittelrationierung. Die so entstehenden komplexen metabolischen Beziehungen führten dazu, dass Menschen und Tiere sich neue Ernährungsweisen erschlossen, bisweilen ihre Nahrung teilten, aber auch um begrenzte Ressourcen konkurrierten. In manchen Fällen, wie in Leipzig, kam es sogar zu einer “Triage” unter den Zootieren, wobei “[w]eniger wertvolle Stücke geschlachtet werden [mussten], um für die besseren Tiere Futterfleisch zu gewinnen”.3 In anderen Fällen, wie während der Belagerung von Paris, fing die Stadtbevölkerung an, nach “städtischem Wild“ zu jagen und “den Zoo zu verzehren”. Diese und andere Geschichten mögen beispielhaft die Rolle logistischer Stoffwechselprozesse bei der Verwandlung von Tieren in Objekte zu zeigen.
Kreisläufe auf See
Um die naturkundlichen Sammlungen Europas mit Objekten zu bestücken, mussten viele Tiere – sowohl tote als auch lebende – lange Strecken zurücklegen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der globale Transport von Tieren auf den Seeweg angewiesen. Daher ist die Geschichte der Naturkunde auch eine der maritimen Logistik, wobei die Überfahrt auf dem Schiff ein komplexes ökologisches Geflecht des Fütterns, Fressens und Gefressenwerdens entstehen ließ. Welche metabolischen Beziehungen bildeten sich im Laufe der Geschichte von Tieren auf See aus?
“Ein Crashkurs in der Cuisine des ‘goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung’ [zwischen 1897 und 1922] zeigt, dass die Ernährung aus der freien Natur bei der Erkundung der Antarktis unerlässlich war. Viele Tausend Robben, Pinguine und Pinguineier und, obendrein, zahllose Seevögel wurden von den Expeditionen entlang der antarktischen Küste konsumiert.”4
Jason C. Anthonys Beobachtungen in Bezug auf die antarktische Küche treffen auf viele Forschungsexpeditionen zu. Mehr noch: Sie sind nicht allein auf wissenschaftliche Expeditionen beschränkt. In extremen Umgebungen waren Menschen, wie Jäger:innen und Tierfänger:innen, immer auf Wildtiere angewiesen, die sie verspeisten. Anthony schreibt: “Dieselben Wildtiere, die sie für Profit abschlachteten, waren auch Teil ihres Speiseplans und wurden zum Abendessen serviert”. Oder aber es landete nur eine bestimmte Tierart im Kochtopf, während alle anderen Arten verkauft wurden. Als Pelztierjäger:innen in den 1740er Jahren bei der Jagd nach Robben auf der Beringinsel landeten, bestand ihre Diät größtenteils aus der Steller’schen Seekuh. Diese Überjagung führte nur ein paar Jahrzehnte später zum Aussterben der Art. Auch bei Forschungsexpeditionen zwei Jahrhunderte später dienten die Tiere, die unterwegs gesammelt wurden, zugleich als Nahrung für die Expeditionsteilnehmer:innen, so etwa während Darwins Reise auf der “Beagle” oder auf der Ersten Deutschen Tiefseeexpedition an Bord der “Valdivia”. Als Darwins Expedition die Galápagos-Inseln erreichte, fanden sie endemische Riesenschildkröten vor, die schnell in den Mägen der Crew landeten. Auf einer der Galápagos-Inseln, der heute als Santiago bekannten James Island, ernährte sich Darwin “fast ausschließlich von Schildkrötenfleisch; das Brustschild mit dem daran sitzenden Fleisch gebraten […] ist sehr gut, und die jungen Schildkröten geben eine vorzügliche Suppe”,5 wie wir aus seinem Reiselogbuch erfahren. Selbst in diesem abgelegenen Archipel waren Wildtiere von Piraten, Seeleuten und Walfängern seit Jahrhunderten wegen ihres Fleisches gejagt worden. Dabei wurden die Tiere nicht nur an Land verzehrt, sondern auch als Vorräte mit an Bord von Schiffen genommen. Die Galápagos-Riesenschildkröte kann monatelange Schiffsreisen ohne Futter oder Wasser überstehen. Die Tiere wurden daher als lebender Vorratsspeicher auf Schiffen mitgeführt.6 Diese Praxis war auch noch während der Valdivia-Expedition gängig, die 1898 zu einer einjährigen Forschungsreise durch den Atlantischen und Indischen Ozean aufbrach.7 Eine der Riesenschildkröten (Testudo elephantina), die diese Expedition lebend von den Aldabra-Inseln (südwestlich der Seychellen) mitbrachte, wurde wiederum vom Kaiser dem Zoologischen Garten Berlin gestiftet und dadurch vom Wildtier zum urbanen Schauobjekt.
Lebende Vorräte waren indes nicht nur praktisch, sondern häufig überlebenswichtig: Sie ergänzten den begrenzten Proviant, halfen gegen Skorbut und Unterernährung und waren oft billiger und frischer (und damit sicherer) als haltbar gemachte Nahrungsmittel. Die lokale Fleischversorgung war daher “ebenso wichtig für die Logistik einer Expedition wir für ihre Ernährung”.8 Außerdem konnten lebende Tiere oftmals leichter vor sogenannten ‘Schädlingen’ geschützt werden als Trockenvorräte wie Getreide. Die Frage, wer an Bord versorgt wurde, wer verfüttert wurde und wer über Bord ging, hing aber nicht nur von der Ausbildung logistischen Wissens und Praktiken der Ver- und Entsorgung von Tieren an Bord ab. Die Frage, was wem einverleibt wurde, hatte zugleich mit moralischen Ökonomien zu tun, also mit Einteilungen in gewünschte und unerwünschte Tiere, ‘Schädlinge’ oder wertvolle Exemplare. Dabei war die Rolle eines Tieres keineswegs unveränderlich: Wenn sich die Bedingungen an Bord wandelten, konnten potentielle Ausstellungsstücke zu (Tier-)Futter oder ‘Schädlinge’ wie Ratten zu Ausstellungsobjekten werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte des Botanikers Richard Schomburgk, der im Jahr 1844 zusammen mit all seinen gesammelten Pflanzen und Tieren von Britisch Guyana nach Deutschland reiste. Die lebenden Palmen, die er in seiner Kajüte aufbewahrte, litten stark unter Maus- und Rattenbefall.9 Schomburgk machte aus der Not eine Tugend und fügte die “Schädlinge” kurzerhand zu seiner für den Berliner Zoo bestimmten “kleinen Menagerie” hinzu, während er seine toten und damit nutzlosen “Menageriestücke” an die invasiven Nager verfütterte. Kategorien wie Abfall, Wert und (Wieder-)Verwendung befanden sich im Kontext der metabolischen und logistischen Kreisläufe auf See daher ständig im Wandel.
Städtische Ströme
Viele dieser Tiertransporte auf See hatten (große) Städte zum Ziel. Mit der Ankunft am jeweiligen Zielort endeten die Verwandlungen der Tiere (ob tot, lebendig oder in Form verschiedener Arten von Präparaten) jedoch nicht: Die metabolischen und logistischen Prozesse dauerten weiterhin an, als das Schiff längst wieder den Hafen verlassen hatte. Betrachten wir beispielsweise die folgende Episode aus der Geschichte der Aquaristik: Mehr als 1500 geladene Gäste hatten sich am Abend des 10. Oktober 1876 zur Eröffnung des Great New York Aquarium an der 35. Straße/Ecke Broadway eingefunden. Sie alle waren neugierig auf das, was damals eine Sensation war – die Ausstellung lebender Meerestiere. Nachdem sich öffentliche Aquarien bereits gut ein Jahrzehnt früher in Europa zu verbreiten begannen, war der Trend gerade erst in den USA angekommen. Am Eröffnungsabend befanden sich die Süß- und Salzwassertiere allerdings nicht nur in den gläsernen Ausstellungsbecken, sondern auch auf den Tellern der Gäste. Die Speisekarte des Aquariums beinhaltete Grüne Meeresschildkröte à la Blackford, Krebsfleisch-Bouchées, gebratene Austern, Sardinen in Öl, getrocknete Tintenfischeier und viele andere tierische Köstlichkeiten. Während manche Tiere in den Aquarienbehältern weiterlebten, führte der Weg in den städtischen Metabolismus für andere Tiere über die Teller und durch die Mägen der Besucher:innen.
Speisekarte bei der Eröffnung des New York Aquarium. New York Aquarium Journal 1, Nr. 1 (1876): 13.
Diese Praxis erschließt sich vielleicht besser, wenn man sich klar macht, dass die Tierhaltung in Aquarien und Zoos von Anfang an eng mit der Tierzucht und Aquakultur verbunden war. Die ursprüngliche Aufgabe vieler Zoos in ganz Europa war die Zucht landwirtschaftlicher Nutztiere, ebenso wie sich viele Aquarien mit Fischzucht befassten, wie es die engen Verbindungen zwischen dem Great New York Aquarium und der New York State Fisheries Commission belegen.10 Auch der Fall des Londoner Ingenieurs William Alford Lloyd bietet ein anschauliches Beispiel für die historischen Verflechtungen von Lebensmittel- und Tierhandel. Bevor er 1856 das weltweit erste Warenhaus für Aquaristik (The Aquarium Warehouse) gründete, sammelte er in den Abfällen eines lokalen Fischmarkts Austernschalen. Auf diesen fand Lloyd “viele kleine Seeanemonen unterschiedlicher Arten, einige davon vollständig zerstört, doch andere in nahezu perfektem Zustand”.11 Schon bald wurde aus dem weggeworfenen Beifang selbst eine Ware. Während sich “vor sechs oder sieben Jahren noch niemand für Tiere interessiert hat, die man nicht selbst mit Netz oder Angel gefangen hat und die man nicht auf dem Markt verkaufen kann”, 12 verlieh die aufkommende Aquaristik “Lebewesen und Objekten, die man zuvor nicht im Traum als wirtschaftlich einträglich erachtet hätte”, einen Marktpreis.13
Als über die 1870er Jahre hinweg immer mehr öffentliche Aquarien und Zoos in ganz Europa eröffneten, gingen Zoo und Stadt neue metabolische Beziehungen ein. Waren die Zoos und Aquarien für die Beschaffung von Tieren auf globale Handels- und Transportnetze angewiesen, so erforderte die Versorgung und Erhaltung der Tiere städtische Versorgungs- und Entsorgungsinfrastrukturen. Dazu zählt der Anschluss an technische Infrastrukturen wie Wasser- und Abwasserleitungen, Heizsysteme, wie auch die Nahrungsmittelindustrie und Abfallentsorgungssysteme. Aquarien sind beispielsweise seit dem frühen 20. Jahrhundert an kommunale Wassernetze angeschlossen.14 Terrarien wurden an Gas- und später Elektroheizsysteme angeschlossen. Zoos erwarben Fleisch für ihre Tiere von Schlachtern oder Händlern und mussten umgekehrt ihre Tierkadaver entsorgen. Die logistischen und metabolischen Ströme liefen im sogenannten ‘Wirtschaftshof’ zusammen, jenem Knotenpunkt, von dem aus die Versorgung mit Futtermitteln und die Entsorgung von Abfällen des Berliner Zoos zentral organisiert wurde. Häufig durchliefen die Tiere mehrere Stationen und Institutionen – vom Zoo kamen sie in das Pathologische Institut der Tierärztlichen Hochschule und von dort in die Tierbeseitigungsanstalt oder das Naturkundemuseum. Zoos und Museen sind daher alles andere als isolierte Orte, ganz im Gegenteil. Daraus folgt auch, dass bisher vernachlässigte Akteure wie Futtermeister:innen und Orte wie der Wirtschaftshof viel stärker in die Geschichte zoologischer Gärten sowie die jeweilige Stadtgeschichte einfließen müssen, ebenso wie auch der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Tierhaltung, der in Zeitschriften wie “Der Zoologische Garten” diskutiert wurden. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist die Entwicklung von Tierzuchten in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Der Wissenschaftshistoriker Christian Reiß hat gezeigt, wie die experimentelle Zoologie in Deutschland ab dem späten 19. Jahrhundert mit lebenden Versuchstieren zu experimentieren begann. Dazu mussten Universitätsinstitute und andere Forschungseinrichtungen mit Aquarien ausgestattet werden. Indem Reiß den “metabolischen Beziehungen […] des kolonialen Konsums, der Akklimatisierung und der bürgerlichen Tierliebhaberei” folgt, begibt er sich auf Spurensuche nach der historischen Genese und den Dynamiken der Fütterungspraktiken in der frühen experimentellen Zoologie. Reiß argumentiert, dass die Haltung und Fütterung von Labortieren eine Praxis war, die nicht nur die Architektur und Organisation neuer zoologischer Institute mitbestimmte, sondern auch die alltäglichen Aufgaben und Arbeitsprozesse grundlegend veränderte – mit vielfältigen Auswirkungen auf die Wissensproduktion an diesen Orten.15 Um fleischfressende Tiere zu füttern, bauten Labore und Zoos ihre eigenen Futtertierzuchten auf. Manchmal wurden jedoch auch sogenannte ‘Schädlinge’ zu Futtertieren, wie zum Beispiel im Berliner Aquarium, wo 1884 die in den Tiergehegen lebenden Ratten eingefangen und als Futter für die Schlangen verwendet wurden:
“Einige der Reptilien sind indes Feinschmecker und nehmen nur feiste Ratten an; auf dieses im Aquarium häufige Wild wird deshalb zu allen Zeiten die ‚niedere Jagd‘ ohne Schonung geübt, dadurch beschafft man nicht allein das Schlangenfutter, es wird vielmehr in dem langgeschwänzten Räuber ein grimmiger Feind der Vogelwelt bekämpft, denn wiederholt haben Ratten die schlafenden Sänger überfallen und – angefressen.”16
Diese Praxis lässt sich bis weit ins 20. Jahrhundert beobachten, wo als Maßnahme der Schädlingsbekämpfung auf dem Gelände des Berliner Zoos nicht nur Ratten, sondern beispielsweise auch wildlebende Spatzen getötet und an Zoovögel wie Eulen verfüttert wurden.17 Selbst noch in den 1980er Jahren, als das neue Berliner Naturschutzgesetz Vergrämungsmaßnahmen gegen Wildtiere verbot, erhielt der Zoo eine Sondergenehmigung vom Berliner Senat, die ihm erlaubte, Tauben, Elstern, Spatzen sowie Ratten und wilde Kaninchen auf dem Zoogelände abzuschießen. Diese Art der metabolischen Wiederverwertung war allerdings nicht immer unumstritten und besonders in der Folge der Tierschutz- und Umweltbewegungen entfachten diese Praktiken Kontroversen zwischen Tierschutzverbänden, Behörden, dem Zoo und den Besucher:innen.18
In diesem Sinne umfassen städtische Metabolismen nicht nur den Austausch von Energie und Stoffen, sondern sind eng verflochten mit städtischen Ökosystemen, Wirtschaft und Politik, indem die Praktiken und Politiken der Tierhaltung, die Vorstellungen von Tierrechten und die Konzepte von Artenschutz zum Gegenstand öffentlicher Debatte werden und wiederum Versuche der Regulierung einiger dieser Ströme hervorgebracht haben. Somit wandeln sich die Beziehungen zwischen der Natur und der Stadt immer wieder – parallel zu den materiellen und soziotechnischen Infrastrukturen, die ihre metabolischen und logistischen Ströme kanalisieren.
Krisenzeiten: Die Stadt verschlingen
Wenn logistische Ströme unterbrochen werden, dann müssen auch Stoffwechselbeziehungen neu geordnet werden. In Krisenzeiten dienten manche Zootiere sowohl für andere Zootiere als auch für Menschen als Nahrung. “Durch die Unterbrechung der üblichen Nahrungskette offenbarte der Krieg die Stadt als eigenständigen Organismus: Die Stadt ‘wird essbar’, beginnt allerdings zugleich mit der Selbstkannibalisierung: Urbanibalismus.”19 Krieg bedeutet die komplette Neuordnung der metabolischen Beziehungen in der Stadt und der entsprechenden moralischen Ökonomien.20 Dies betraf beispielsweise den einzigen überlebenden Elefanten im Berliner Zoo nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach seinem Tod 1947 wurde sein Fleisch auf dem Schwarzmarkt an ein Restaurant verkauft, ein weiteres ungewöhnliches Beispiel für die Verwertung von Zootieren. Bei der Belagerung von Paris 1870/71 wiederum wurde beim Bemühen um eine Aufbesserung des Speiseplans die Pariser Stadtfauna auf Essbarkeit geprüft und Jagd auf “städtisches Wild” wie Ratten, Hunde und Tauben gemacht.21
Doch damit nicht genug: Ein großer Teil der tierischen Bewohner der Jardin de Plantes fiel der Lebensmittelknappheit zum Opfer. In denkwürdiger Erinnerung ist dabei die Opferung der Elefanten “Castor” und “Pollux” aus der Menagerie des Jardin de Plantes geblieben.22 Gemeinsam mit den Kriegsgefallenen aufgelistet, ist den Elefanten und Kängurus am Eingang zum Park gar ein Denkmal gewidmet. Auf einer Tafel, die die wichtigen Momente in deren Geschichte präsentiert, steht geschrieben: “Während der Belagerung von Paris dienten die Tiere aus dem Zoo als Nahrung für die Pariser:innen.” Diese Worte vermitteln ein Bild von Zootieren als Kriegshelden, die dadurch zum Überleben der Bevölkerung beitrugen. Doch wurde das Fleisch der Zootiere mitnichten in Suppenküchen den Armen oder in Militärkantinen den Soldaten serviert. Überhaupt profitierten die meisten bedürftigen Pariser:innen nicht im Geringsten von der Entscheidung, “den Zoo zu verzehren”.23 Die Elefanten, Yaks und Zebras wurden allesamt zu hohen Preisen an die Fleischer und Fleischlieferanten der Eliten verkauft.
Wie diese Geschichten veranschaulichen, eröffnet der gemeinsame Fokus auf logistische und metabolische Ströme einen neuen Blick auf die Verwandlungen von Tieren und Objekten. Eins dürfte klar geworden sein: Selbst wenn Tiere als Objekte in naturkundlichen Sammlungen enden, hören ihre Verwandlungen nicht auf; Häute, Felle, Skelette, Körper, Zellen, sie alle verwandeln sich ständig weiter und können dabei erneut in Nahrungsketten eingehen – zum Beispiel jene von Käfern und anderen Tieren, die Naturkundemuseen bevölkern und sich mitunter vom organischen Material ihrer Sammlungen ernähren.
- David Peleman, Bruno Notteboom, Michiel Dehaene. “Fragments of a Changing Natural History of Urbanisation”. Oase 104 (2019): 2. Mehr zu Konzepten des städtischen Metabolismus findet sich bei Matthew Gandy. “Rethinking Urban Metabolism: Water, Space and the Modern City”. City 8, Nr. 3 (Dez. 2004): 363-379. https://doi.org/10.1080/1360481042000313509. Originalzitate sind ins Deutsche übersetzt.↩
- Ein Überblick über das Marxsche Konzept des Metabolismus und dessen derzeitige Wiederaufnahme findet sich hier: http://www.rebelnews.ie/2020/10/20/marx-engels-metabolic-rift-part-one/. Mehr dazu findet sich auch bei Andreas Malm: https://www.versobooks.com/blogs/3691-in-defence-of-metabolic-rift-theory; oder auch bei Hannah Landecker; “Postindustrial Metabolism: Fat Knowledge.” Public Culture 25, Nr. 3 (Herbst 2013): 495-522. doi: https://doi.org/10.1215/08992363-2144625↩
- Johannes Gebbing (Hg.). 50 Jahre Leipziger Zoo, 1878-1928. Leipzig: Selbstverlag des zoolog. Gartens, 1928: 36. Zum Thema Massenschlachtung siehe Anne Roerkohl. “Die Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkrieges im Spannungsfeld kommunaler und staatlicher Maßnahmen”. In Durchbruch zum modernen Massenkonsum: Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Hans Jürgen Teuteberg (Hg.). Münster: Coppenrath, 1987: 309-370.↩
- Anthony datiert das goldene Zeitalter auf die Zeitspanne zwischen 1897 und 1922. Jason C. Anthony. “The Importance of Eating Local: Slaughter and Scurvy in Antarctic Cuisine”. Endeavour 35, Nr. 4 (2011): 169-177; https://doi.org/10.1016/j.endeavour.2011.07.002. Originalzitate sind ins Deutsche übersetzt.↩
- Charles Darwin. Reise um die Welt: Erlebnisse und Forschungen in den Jahren 1832-1836, A. Helrich (Hg.), Giessen, 1893: 445-446. Viele andere Tiere, darunter Löwen und Pumas, endeten auf der Speisekarte der Expeditionsmitglieder, wobei Darwin vermerkte: “Ich hatte jetzt seit mehreren Tagen nichts anders als Fleisch gegessen; fühlte mich aber ganz wohl mit dieser Nahrung”, aus: Charles Darwin’s Naturwissenschaftliche Reisen nach den Inseln des grünen Vorgebirges, Südamerika, dem Feuerlande, den Falkland-Inseln, Chiloé-Inseln, Galápagos-Inseln, Otaheiti, Neuholland, Neuseeland, Van Diemen’s Land, Keeling-Inseln, Mauritius, St. Helena, den Azoren etc. Deutsch und mit Anmerkungen von Ernst Dieffenbach. Braunschweig: Vieweg, 1844: 135.↩
- Allein zwischen 1811 und 1814 sollen rund 15.000 Exemplare dieser Schildkröten auf Schiffe geladen worden sein, siehe Charles Darwin. The Voyage of the Beagle, Charles W. Eliot (Hg.), Bd. 29, New York: P.F. Collier & Son, 1909.↩
- Mehr über die Expedition erfährt man in diesem deutschsprachigen Podcast: https://www.youtube.com/watch?v=_3qMHSCijPU; siehe auch Rudi Palla. Valdivia: die Geschichte der ersten deutschen Tiefsee-Expedition. Berlin: Galiani, 2016; Carl Chun. Wissenschaftliche Ergebnisse der deutschen Tiefsee-Expedition auf dem Dampfer “Valdivia”, 1898-1899, Jena: Fischer, 1902.↩
- Anthony, 2011: 169.↩
- Da seine Mittel lediglich zum Kauf zweier Ward’scher Kästen für die Verwahrung der wertvollen Orchideensammlung ausreichten, verstaute er die Palmen zuerst in einem Beiboot und später, als sich ihr Zustand verschlechterte, in seiner eigenen Kajüte. Doch nicht einmal diese komfortable Unterkunft konnte sie vor dem Schaden bewahren, den Mäuse und Ratten anrichteten. Richard Schomburgk. Reisen in Britisch-Guiana in den Jahren 1840-1844: Nebst einer Fauna und Flora Guiana’s nach Vorlagen von Johannes Müller, Ehrenberg, Erichson, Klotzsch, Troschel, Cabanis und Andern. Leipzig: J.J. Weber, 1847–48, Bd. II, 1848: 510.↩
- Bei der Weltausstellung in Paris im Jahr 1867 wurde den Besucher:innen des Salzwasseraquariums auch die Régneville Austernzucht präsentiert; zudem wurde die Adresse der Züchter im Begleitheft zur Ausstellung aufgeführt, siehe Sofie Lachapelle und Heena Mistry. “From the Waters of the Empire to the Tanks of Paris: The Creation and Early Years of the Aquarium Tropical, Palais de la Porte Dorée”. Journal of the History of Biology 47, Nr. 1 (2014): 1-27; siehe auch Darin Kinsey. “‘Seeding the Water as the Earth’: The Epicenter and Peripheries of a Western Aquacultural Revolution”. Environmental History 11 (2006): 527-566.↩
- William Alford Lloyd. “The Aquarium”. The Popular Recreator (1873): 170-171, 170.↩
- John George Wood. The Common Objects of the Sea Shore: Including Hints for an Aquarium. London: Routledge, 1859: 62.↩
- William Alford Lloyd. A List, With Descriptions, Illustrations, and Prices of Whatever Relates to Aquaria. London: Hayman Bros., 1858: 123.↩
- Siehe Mareike Vennen. Das Aquarium: Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018.↩
- Martina Schlünder, Christian Reiß, Axel C. Hüntelmann und Susanne Bauer. “Cakes und Candies: Zur Geschichte der Ernährung von Versuchstieren”. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35, 4 (2012): 275-285, 282, https://doi.org/10.1002/bewi.201201600. Im Laufe der 1870er und 1880er Jahre wurden beispielsweise in Würzburg, Leipzig und Freiburg neue Institutsgebäude mit Außenbereichen gebaut, um den Erfordernissen zoologischer Forschung gerecht zu werden. Diese Veränderungen bedurften allerdings nicht bloß einer neuen Art der Architektur, sondern auch eine Neustrukturierung der Arbeit, die nun auch Aufgaben im Bereich der Tierversorgung beinhaltete, siehe Christian Reiß. Der Axolotl: Ein Labortier im Heimaquarium. Göttingen: Wallstein, 2018.↩
- Anonym. “Speisekammer und Küche des Berliner Aquariums”. Der Zoologische Garten 25 (1884): 156-157.↩
- Zum Thema der Ratten im Berliner Zoo siehe auch AZGB N/4/2. Um mehr über die im Text erwähnten Spatzen zu erfahren siehe AZGB O 0/1/274.↩
- Zu den Kontroversen um den Berliner Zoo siehe AZGB O 0/1/274. Ein Fall, der in jüngerer Zeit Wellen schlug, begab sich im Zoo von Kopenhagen, wo ein gesundes, 18 Monate altes Giraffenmännchen vor Publikum seziert und anschließend an die Löwen des Zoos verfüttert wurde. Siehe hierzu etwa Roff Smith. “Giraffe Killing at Copenhagen Zoo Sparks Global Outrage”. National Geographic 12.02.2014: https://www.nationalgeographic.com/science/article/140210-giraffe-copenhagen-science.↩
- Wietske Maas und Matteo Pasquinelli. “The City Devouring Itself: Urbanibalism in Times of World Wars, Insurgent Communes and Biopolitical Sieges”. In Open #18: 2030 – War Zone Amsterdam, J. Seijdel und L. Melis (Hg.). Rotterdam: NAi Publishers, 2009. http://matteopasquinelli.com/docs/Maas_Pasquinelli_City_Devouring_Itself.pdf.↩
- Wie eng Krieg und Logistik miteinander verknüpft, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass letztere aus der Kodifizierung militärischer Operationen, der Versorgung und des Transports von Truppen entstand.↩
- “Es wird geschätzt, dass während der Belagerung mehr als 5.000 Katzen geschlachtet und gegessen wurden”. Current Opinion #4, New York: Current Literature Pub. Co, 1890: 379. Für eine Schilderung des Verzehrs von Pferde-, Hunde-, Katzen- und Rattenfleisch während der Belagerung in Tagebucheinträgen, siehe Nathan Sheppard. Shut Up in Paris. London: Richard Bentley and Son, 1871.↩
- Rebecca L. Spang. “‘And They Ate the Zoo’: Relating Gastronomic Exoticism in the Siege of Paris”. Modern Language Notes 107, Nr. 4 (Sept. 1992): 752-773. Laut Spang hatte ein Restaurant am 25. Dezember 1870, dem 99. Tag der Belagerung, Consommé d’Eléphant zusammen mit Cuissot de Loup, sauce Chevreuil (Wolfslende mit Wildsoße) und andere Tiere auf der Speisekarte.↩
- Ebd.↩