Für wissenschaftliche wie populäre Tiermodelle verwendete man während des 19. und 20. Jahrhunderts vielfältige Materialien – lange bevor es Plastikmodelle gab. Die Wahl der Materialien bestimmte nicht nur ihre Formbarkeit, mögliche Farbgebung, Gewicht und Haltbarkeit, sondern auch, wie viele Exemplare hergestellt werden und wie sie zirkulieren konnten. Sie hatte somit Auswirkungen auf praktische Fragen der Nutzung, auf ästhetische Fragen und auf das Wissen, das ein Modell vermitteln sollte bzw. konnte.
Während das Atelier von Adolf Ziegler (1820-1889) und seinem Sohn Friedrich (1860-1936) in Freiburg Modelle von tierischen und menschlichen Anatomien in Wachs herstellte,1 um die durchscheinende Fleischlichkeit zu betonen, wählte der französische Modelleur und Anatom Louis Auzoux (1792-1880) für seine Tier- und Pflanzenmodelle das Material Papiermaschee.2 Die Technik wurde bereits im alten China für Helme benutzt und Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa für anatomische Modelle eingeführt, doch Auzoux entwickelte eine neue Rezeptur, die er sorgfältig hütete. Die Leichtigkeit der getrockneten Masse aus Papier und verschiedenen weiteren Ingredienzien sowie Klebemitteln erlaubte es etwa, eine ca. fünf Zentimeter kleine Seidenraupe auf eine Modelllänge von 75 Zentimetern zu vergrößern und ihre Körperteile naturalistisch darzustellen.3
Das aufklappbare anatomische Funktionsmodell (auch Clastique-Modell genannt) von Bombyx mori, dem Maulbeerspinner, der früher zum Seidenanbau in Berlin und Brandenburg gezüchtet wurde, zeigt in starker Vergrößerung und großer Detailgenauigkeit die Haut und Extremitäten, die inneren Organe und die Spinndrüsen des Tiers. Das sorgfältig bemalte Artefakt, das vermutlich in den 1860er Jahren hergestellt wurde und sich heute in der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin befindet,4 lässt sich an Metallhäkchen aufklappen und weist neben Nummerierungen auch direkte Beschriftungen auf den einzelnen Körperteilen auf. Diese Beschriftungen verweisen damit nicht nur auf die Körperteile wie in einer Legende, sondern das Papiermaschee selbst ist beschrieben, und zwar im doppelten Sinne: einerseits mit Tinte und Buchstaben, andererseits mit wissenschaftlichen Fachausdrücken. Der Seidenspinner erscheint hier als Nutztier, das ein Produkt – den Seidenfaden – herstellt. Zugleich bildet er ein Stadium einer kompletten Metamorphose ab, deren Imago (das geschlechtsreife Insekt nach der letzten Verwandlung) Auzoux wiederum in Papiermaschee festgehalten hat: Die weibliche und die männliche Seidenmotte bot er ebenfalls als Modell für den Lehrbetrieb an.
- Vgl. Nick Hopwood. Embryos in Wax: Models from the Ziegler Studio. Cambridge: Whipple Museum of the History of Science, 2002.↩
- Zu Auzoux’ Modellen, vgl. Bart Grob. The World of Auzoux: Models of Man and Beast in Papier-Mâché. Leiden: Museum Boerhaave, 2000; Margret Maria Cocks. “Dr Louis Auzoux and His Collection of Papier-Mâché Flowers, Fruits and Seeds”. Journal of the History of Collections 26, Nr. 2 (2014): 229-248; Margret Maria Olszewski. “Dr. Auzoux’ Botanical Teaching Models and Medical Education at the Universities of Glasgow and Aberdeen”. Studies in History and Philosophy of Science. Part C 42, Nr. 3 (2011): 285-296.↩
- Vgl. “Modell, Raupe, Seidenspinner”. Datenbankeintrag der Humboldt-Universität zu Berlin, ohne Datum, https://www.sammlungen.hu-berlin.de/objekte/zoologische-lehrsammlung/8322/ (03.01.2022).↩
- Vgl. Dr. L. Wittmack. Allgemeiner Katalog des königlichen landwirthschaftlichen Museums zu Berlin. Berlin: Verlagsbuchhandlung Wiegandt und Hempel, 1869: 108-109. Das Modell von Auzoux wurde für gut 66 Taler erworben und dann höchstwahrscheinlich mit dem Neubau des Vereinigten landwirthschaftlichen Lehr-Institut und Museum in Berlin 1880 in die Invalidenstraße 42 transferiert.↩