Mikropaläontologische Sackgassen

Story Das Interesse an Mikrofossilien schien zu schwinden

 Unregelmäßige, korallenartige Struktur, mit kleinen stäbchen- und scheibenförmigen Gebilden auf der Oberfläche. Lithografische Darstellung der gallertartigen Substanz, die als Bathybius interpretiert wird.

Eine Lithografie der Substanz Bathybius haeckelii, von der geglaubt wurde, sie sei Urprotoplasma vom Meeresboden und ein Beweis für die Verbindung zwischen anorganischer Materie und organischem Leben. Als sich die gelatinöse Substanz jedoch als anorganisches Artefakt des Alkohols entpuppte, der zur Konservierung der Proben verwendet wurde, bremste die entstandene Kontroverse die frühen Vorstöße mikropaläontologischer Forschung aus.1

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionierten Naturforschende mit verschiedenen Beobachtungen das wissenschaftliche Verständnis von Natur und brachten mehr Ordnung in die frühe Mikropaläontologie. Ermöglicht wurden diese Beobachtungen durch deutliche Verbesserungen im Bereich der Mikroskopie ab den 1830er Jahren2 (was die Entwicklung der modernen Zelltheorie ermöglichte3) und auf die wachsende Zahl von Belegen für die Transmutation von Lebewesen, die in den 1850er Jahren in den Evolutionstheorien von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace mündeten.4 Doch trotz dieser Neuerungen nahm die Definition mikrobiellen Lebens sowie das Verständnis der Funktion von Mikroben im Verlauf der Erdgeschichte nur langsam Form an. Viele Naturforschende führten die Bemühungen zur Beschreibung und Klassifizierung der mikrobiellen Vielfalt von Alcide d’Orbigny und Christian Gottfried Ehrenberg fort.5 Zusätzlich motivierte sie der Wunsch, die kreationistischen Positionen dieser ‘Gründerväter’ zu überwinden – sie hatten die Evolution beharrlich als unbewiesen erachtet. Dennoch gerieten diese frühen Versuche, eine Verbindung zwischen Mikroorganismen und der Evolution des Lebens auf der Erde herzustellen, schon bald in eine vermeintliche Sackgasse.

Im Fall der Foraminiferen trugen z.B. die Arbeiten von William Benjamin Carpenter6 dazu bei, der in den 1860er Jahren die Systematisierung von Alcide d’Orbigny ablehnte. Mit seiner abweichenden Interpretation der Foraminiferen stellte er in Frage, ob der Begriff für diese Lebewesen überhaupt zutraf. Carpenter folgerte außerdem, dass die große Variationsbreite innerhalb dieser Gruppe nicht repräsentativ für die Entwicklung in komplexere Formen war. Stattdessen ging er davon aus, dass sie auf geringe Veränderungen im Laufe der geologischen Zeit hinwies. Während er zwar d’Orbignys Schöpfungslehre zurückwies, begünstigte seine Ansicht zugleich das Missverständnis, dass Foraminiferen für die Paläontologie uninteressant seien. Laut Carpenter hatten sie sich über die gesamte Erdgeschichte hinweg kaum verändert. Zur gleichen Zeit erfuhren auch die Radiolarien eine Neuklassifizierung, die stärker am aufkommenden Evolutionismus orientiert war – und doch blieb das enorme Potential an Hinweisen und Informationen, das diese Mikroorganismen bargen, weiterhin unerkannt. Ernst Haeckel, ein junger deutscher Naturforscher, entschied sich, den Fokus seiner Doktorarbeit auf diese Lebewesen zu legen, die bis dahin hauptsächlich von Ehrenberg untersucht worden waren. Haeckel strebte an, sie in ein besseres ‘natürliches System’ einzuordnen.7 Als er auf die Arbeit von Charles Darwin stieß, wurde Haeckel sofort ein glühender Anhänger und führte eine evolutionäre Perspektive in seine viel beachtete Forschung über Radiolarien ein. Selbst ein Enthusiast wie Haeckel übernahm jedoch schließlich die Sicht, dass sich diese Mikroorganismen im Laufe der geologischen Zeit nur wenig und langsam veränderten. Diese Annahme verfestigte sich in den 1870er Jahren durch die HMS Challenger-Expedition – der ersten vollständigen ozeanografischen Vermessung der Weltmeere.8 Nachdem die Wissenschaftler:innen und die Besatzung der Expedition Tausende von Proben und Daten gesammelt und ihre Beobachtungen dokumentiert hatten, wurden die führenden Experten der damaligen Zeit ausgewählt, um die Ergebnisse der Expedition zu analysieren und über sie zu berichten.

Haeckel wurde mit dem Bericht über die Radiolarien und Henry Bowman Brady mit dem über die Foraminiferen beauftragt.9 Detailliert, gründlich und kunstvoll illustriert wurden beide Berichte als große Leistungen gewürdigt. Sie werden zu den krönenden Errungenschaften der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts gezählt. Ihre enzyklopädische Arbeit – zusammen mit der der anderen Wissenschaftler, die das Material der HMS Challenger untersuchten – bildet noch immer die Grundlage vieler Bereiche der heutigen Ozeanografie. Außerdem hat ihre Forschung unser Verständnis von der Natur tiefgreifend geprägt. Während der deskriptive Gehalt der beiden Berichte immer noch geschätzt wird, bestätigten sie jedoch fälschlicherweise die Vorstellung, dass sich Mikroorganismen nur langsam und über lange geologische Zeiträume hinweg entwickelten. Noch ehe sie wirklich geboren war, sah sich die Mikropaläontologie einem vorzeitigen Tod gegenüber, da diese frühen Studien den Zusammenhang zwischen Mikrofossilien und geologischer Zeit verkannten. Das blieb so, bis eine Gruppe junger Geologinnen im Jahr 1921 eine unerwartete Entdeckung machte, die in Gang setzen sollte, was wir heute als industrielle Mikropaläontologie kennen.


  1. Ernst Haeckel. “Beiträge zur Plastidentheorie”. Jenaische Zeitschrift für Medizin und Naturwissenschaft 5 (1870), Tafel 17, Abb. 1. Mehr zu Bathybius in John R. Dolan. “The Famous and Lesser-Known Illustrations of Thomas Huxley’s Bathybius”. History of Oceanography, 13.07.2020, https://oceansciencehistory.com/2020/07/13/the-famous-and-lesser-known-illustrations-of-thomas-huxleys-bathybius/ (03.01.2022); Philip F. Rehbock. “Huxley, Haeckel, and the Oceanographers: The Case of Bathybius Haeckelii”. Isis 66, Nr. 4 (1975): 504–533. http://www.jstor.org/stable/228925
  2. Zu den Hintergründen der Geschichte der Mikroskopie siehe “History of Microscopy: Timeline”. Science Learning Hub – Pokapū Akoranga Pūtaiao, 30.09.2016. https://www.sciencelearn.org.nz/resources/1692-history-of-microscopy-timeline (03.01.2022); Robert R. Shannon und Brian J. Ford. “Microscope”. Encyclopedia Britannica, ohne Datum, https://www.britannica.com/technology/microscope/History-of-optical-microscopes (03.01.2022); “Microscopes”. National Museums Scotland, ohne Datum. https://www.nms.ac.uk/explore-our-collections/stories/science-and-technology/microscopes/ (03.01.2022); Rudi Rottenfusser, Erin E. Wilson und Michael W. Davidson. “Microscopy: Historical Perspective”. Zeiss, ohne Datum. https://www.zeiss.com/microscopy/int/solutions/reference/basic-microscopy/microscopy-historical-perspective.html (03.01.2022). Mehr dazu in A.J. Wollman, R. Nudd, E.G. Hedlund und M.C. Leake. “From Animaculum to Single Molecules: 300 Years of the Light Microscope”. Open Biology 5 (01.04.2015): 1–10. https://doi.org/10.1098/rsob.150019.
  3. Für weitere Ausführungen zur Entstehung der Zelltheorie siehe Ohad Parnes. “The Envisioning of Cells”. Science in Context 13, Nr. 1 (2000): 71–92. https://doi.org/10.1017/S0269889700003720; M.L. Richmond. “Protozoa as Precursors of Metazoa: German Cell Theory and its Critics at the Turn of the Century”. Journal of the History of Biology 22 (1989): 243–276. https://doi.org/10.1007/BF00139514; Natasha X. Jacobs. “From Unit to Unity: Protozoology, Cell Theory, and the New Concept of Life”. Journal of the History of Biology 22, Nr. 2 (1989): 215–242. http://www.jstor.org/stable/4331093
  4. Es gibt zahlreiche Arbeiten über Darwin, Wallace und ihre Evolutionstheorien, siehe z.B.: “Natural Selection: Charles Darwin & Alfred Russel Wallace”. University of California Museum of Paleontology, 22.08.2008, https://evolution.berkeley.edu/evolibrary/article/0_0_0/history_14 (03.01.2022); J. Norman. “Darwin & Wallace Issue the First Printed Exposition of the Theory of Evolution by Natural Selection”. History of Information, 25.11.2014. https://www.historyofinformation.com/detail.php?id=1655 (03.01.2022); Darwin Correspondence Project, 2020. https://www.darwinproject.ac.uk (03.01.2022); Alexandra Stober. “Evolutionsforschung: Charles Darwin, Revolutionär und Gentleman”. Planet Wissen, 02.06.2020. https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/evolutionsforschung/pwiecharlesdarwinrevolutionaerundgentleman100.html (03.01.2022). Mehr dazu siehe James T. Costa, Wallace, Darwin, and the Origin of Species. Cambridge: Harvard University Press, 2014.
  5. Mehr zu früher Forschung siehe Frühe Mikropaläontologie.
  6. Mehr zu Carpenter und seiner Relevanz für die Mikropaläontologie: “William Benjamin Carpenter, 1813-1885”. Cushman Foundation for Foraminiferal Research, ohne Datum. https://cushmanfoundation.org/PersonifyEbusiness/Resources/Gallery-of-Foraminiferal-Researchers (23.01.2022).
  7. Zu Haeckels Karriere und Leben, siehe Robert J. Richards. The Tragic Sense of Life: Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago und London: University of Chicago Press, 2009.
  8. Hierbei handelte es sich um eine der berühmtesten ozeanographischen Forschungsexpeditionen im 19. Jahrhundert. Siehe Ben Lerwill. “HMS Challenger: The voyage that Birthed Oceanography”. BBC Online, 21.07.2020. https://www.bbc.com/travel/article/20200719-hms-challenger-the-voyage-that-birthed-oceanography (03.01.2022); Kate Golembiewski. “H.M.S. Challenger: Humanity’s First Real Glimpse of the Deep Oceans”. Discover Magazine, 20.04.2019. https://www.discovermagazine.com/planet-earth/hms-challenger-humanitys-first-real-glimpse-of-the-deep-oceans (03.01.2022). Mehr dazu in Helen M. Rozwadowski. Fathoming the Ocean: The Discovery and Exploration of the Deep Sea. Cambridge: Harvard University Press, 2005.
  9. Für biografische Angaben zu Brady siehe C.G. Adams. “Henry Bowman Brady, 1835–1891”. Cushman Foundation for Foraminiferal Research, ohne Datum. https://cushmanfoundation.org/PersonifyEbusiness/Resources/Gallery-of-Foraminiferal-Researchers (23.01.2022).
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