Von einer Karawane gekauft

Material Geschichten, die uns Tierschädel erzählen

Verschiedene gehörnte Tierschädel, die auf der Oberseite mit schwarzer Tinte beschrieben sind.

Aufreihung von Alcelaphus lichtensteinii Exemplaren in der Schädelsammlung des Museums für Naturkunde Berlin. (Foto: Catarina Madruga/MfN. Alle Rechte vorbehalten.)

Neun Schädel in der Säugetiersammlung des Museums für Naturkunde Berlin weisen jeweils auf der vorderen Oberseite eine Beschriftung mit schwarzer Tusche auf. Diese gibt Auskunft über die Klassifikation der Tiere im Sinne der taxonomischen Systematik und über die Herkunft des jeweiligen Objekts. Die Objekte, darunter auch jenes mit der Inventarnummer ‘MfN-Mam-049330’, sind Schädel von männlichen und weiblichen Exemplaren der afrikanischen Antilopenart Hartebeest, die der einstige Direktor des Museums für Naturkunde Berlin, Wilhelm Peters (1815-1883), zu Ehren seines Vorgängers Martin Lichtenstein (1780-1857) als Sigmoceros lichtensteinii benannte (die heutige offizielle Bezeichnung lautet Alcelaphus lichtensteinii).1 Zur Herkunft vermerkt die Beschriftung, dass die Schädel in “Sansibar von einer aus dem Hinterlande von Lindi, Bez[irk] Lindi, D.O.A., kommenden Karawane gekauft” wurden.2

Bildausschnitt eines Tierschädels, Hornansatz am oberen Bildrand zu erkennen. Auf dem Schädelknochen steht in schwarzer Schrift die Nummer 49330 geschrieben, darunter heißt es: „In Sansibar von einer aus dem Hinterlande von Lindi, Bez[irk] Lindi, D.O.A., kommenden Karawane gekauft. Julius Riemer V. / Oscar Neumann S. / S. lichtensteini“

Bildausschnitt des Präparats ‘ZMB-Mam-049330’, der die Beschriftung des Schädels zeigt. (Foto: Catarina Madruga/MfN. Alle Rechte vorbehalten.)

Die geografische Verortung zählt zu den wichtigsten Informationen über mineralogische, botanische oder zoologische Objekte. Trotz der vermeintlichen Ausführlichkeit enthält die Beschriftung jedoch keinerlei Hinweise darauf, wo die Tiere gefangen, wo sie getötet oder wo sie präpariert wurden. Stattdessen ist der Name des Ortes angegeben, wo die Objekte gekauft wurden – Sansibar, das Archipel vor der ostafrikanischen Küste im Norden Tansanias – sowie die Route des Verkäufers – “von Lindi […] kommend”, also aus einer größeren Region im Süden Tansanias. Der konkrete Herkunftsort und das Verbreitungsgebiet dieser Tiere bleiben somit unbekannt. Die Gründe dafür sind historischer Natur. Genauer gesagt: Sie haben mit der historischen Praxis des Verzeichnens zu tun, die sich wesentlich von der heutigen unterschied. Während die Herkunft von Sammlungsobjekten im 18. Jahrhundert meist in sehr groben Kategorien angegeben wurde, wie z.B. ‘Afrika’, wird in der heutigen Evolutionsforschung und Biogeografie mit GPS-Koordinaten gearbeitet, die sich in Datenbanken einpflegen lassen. Historische Beschriftungen mit Angaben wie “aus dem Hinterlande von Lindi” stellen daher sowohl die biologische Forschung als auch Sammlungskurator:innen vor Herausforderungen, vor allem bezüglich des im Katalog anzugebenden Herkunftsorts. In diesem Fall wurde als Herkunftsort aller Schädel der Bezirk Lindi angegeben, ein Gebiet, das sich über mehr als 60.000 Quadratkilometer erstreckt. Gleichwohl können diese Objekte erfolgreich als Ressourcen für heutige Forschungen genutzt werden, beispielsweise im Hinblick auf das Aussterben oder die Gefährdung von Tierpopulationen und -arten.3

Darüber hinaus liefern die Beschriftungen wichtige historische Einblicke in die Praxis des Sammelns und der Dokumentation während der Kolonialzeit. Im vorliegenden Fall gibt die Beschriftung Aufschluss über die Abfolge der Verwahrung, bzw. der (Vor-)Besitzer:innen der Tiere. Die Materialität der Schädel selbst liefert einen schriftlichen Hinweis auf ihre jeweilige Hintergrundgeschichte, ihre Provenienz. Wir erfahren, dass die Objekte von ‘Julius Reimer V.’ und ‘Oscar Neumann S.’ stammen. Das bedeutet, dass die Schädel von dem deutschen Händler Julius Reimer (1880–1958) gekauft wurden (‘V’ bedeutet ‘Verkauft’), der sie zuvor, vermutlich auf Sansibar, von dem prominenten Sammler und Mitarbeiter des Zoologischen Museums Berlin, Oscar Neumann (1867-1946), erworben hatte (‘S’ bedeutet ‘Sammlung’). Sowohl Reimer als auch Neumann werden namentlich genannt, während die ‘Karawane’ ebenso wie der ‘Bezirk Lindi’ sehr vage Angaben sind. Dies unterstreicht den einseitigen Blick des kolonialen Archivs auf die Rolle europäischer Akteure, während lokale Akteure – darunter Jäger:innen und Händler:innen, die entscheidenden Anteil am Aufbau europäischer Sammlungen hatten – aus der historischen Dokumentation getilgt wurden.

Beschriftungen wie diese bieten uns Einblicke in den kolonialen Kontext der Beschaffung und Sammlung von Objekten. Sie liefern uns Hinweise über die bloße taxonomische Klassifikation hinaus. Um zu rekonstruieren, woher diese Schädel genau stammten und welche Wege zurücklegten, ehe sie ins Museum für Naturkunde Berlin gelangten, müssen die auf den Objekten und im Katalog enthaltenen Informationen mit anderen historischen Quellen aus dem historischen Archiv sowie weiteren materiellen Quellen abgeglichen werden. Die Provenienzforschung ist ein zentraler Faktor für ein besseres Verständnis naturkundlicher Sammlungen.


  1. Mehr über die nomenklatorische Praxis findet sich bei Michael Ohl. Die Kunst der Benennung. Berlin: Matthes & Seitz 2015.
  2. Die Beschriftung lautet: “In Sansibar von einer aus dem Hinterlande von Lindi, Bez[irk] Lindi, D.O.A. [Deutsch Ost Afrika], kommenden Karawane gekauft. / Julius Reimer V[erkauft]. / Oscar Neumann S[ammlung] / S[igmoceros] lichtensteinii”
  3. Verschiedene Forschungsprojekte befassen sich mit dem Abgleich des (globalen) Fossilberichts mit historischen Sammlungen, um so Erkenntnisse über die Verbreitung von Tierarten in der Vergangenheit zu gewinnen. Siehe z.B.: Elisabeth Hempel et al. “Diversity and Paleodemography of the Addax (Addax nasomaculatus): A Saharan Antelope on the Verge of Extinction”. Genes 12, Nr. 8 (2021): 1236. https://doi.org/10.3390/genes12081236
Tiere als Objekte? Eine Webseite des Forschungsprojekts “Tiere als Objekte. Zoologische Gärten und Naturkundemuseum in Berlin, 1810 bis 2020”, herausgegeben von Ina Heumann und Tahani Nadim. Datenschutzerklärung | Impressum