Ort: Museum für Naturkunde Berlin, Sammlung der Amphibien und Reptilien. Ich bin auf der Suche nach einem ‘jungen Caiman’ in Weingeist. 1844 hatte der Botaniker Moritz Richard Schomburgk (1811-1891) das Tier lebend, zusammen mit mehreren Kisten Naturalien, aus der damaligen britischen Kolonie Guayana mitgebracht. Nach kurzem Aufenthalt im Zoologischen Garten soll es nach seinem Tod in die Herpetologische Sammlung des Zoologischen Museums Berlin (ZMB, das heutige Museum für Naturkunde Berlin) gekommen sein. Diese Informationen sind in den Notizen des damaligen Museumspräparators Friedrich Beyer zu finden.
Frank Tillack, Sammlungsmanager für die Amphibien- und Reptiliensammlung, besucht mit mir die Nasssammlung der Amphibien. Die Suche gestaltet sich indes schwieriger als gedacht. Wie kommt das? Selbst wenn längst nicht alle Sammlungsbestände in digitalen Datenbanken eingetragen sind, gibt es doch alte Eingangs- und Inventarkataloge, die seit dem 19. Jahrhundert als Find- und Ordnungsinstrumente der Sammlung dienten und die meisten der im Museum eintreffenden Tiere verzeichneten. Aus welchen Gründen bleibt die Suche nach historischen Präparaten in manchen Fällen dennoch erfolglos? Warum helfen die Kataloge nicht immer weiter und was sind die Herausforderungen im Umgang mit ihnen?
Eine Schwierigkeit hängt mit der damaligen Praxis des Katalogisierens zusammen. Die Eingangskataloge des Königlichen Zoologischen Museums reichen beinah bis zur Zeit der Universitätsgründung 1810 zurück.1 Damals wurde zunächst ein Generaleingangskatalog angelegt, der die meisten Eingänge im Museum verzeichnete, in dem allerdings Angaben zur Anzahl und Identität der eingelieferten Objekte häufig fehlen.2 In diesen Fällen – besonders wenn Sammler wie Schomburgk kistenweise Sendungen schickten – ist heute unklar, wie viele Exemplare eine Einsendung genau beinhaltete. Zusätzlich führten die meisten Kustodien schon früh spezielle Kataloge für die jeweilige Tiergruppe ein, darunter auch die Sammlung für Amphibien und Reptilien.3 Hier gab es, wie in anderen Teilsammlungen auch, zwei unterschiedliche Katalogtypen: einen Eingangs- und einen Inventarkatalog.4
Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten von Schomburgk, gelangten Tiere auf verschiedensten Wegen in das Museum, durch Ankäufe, Schenkungen, Tausch oder vom Museum organisierte bzw. finanzierte Sammelexpeditionen. Somit waren ganz unterschiedliche Akteur:innen in das Sammeln vor Ort und in die Verschickung involviert; nicht nur Forschungsreisende, (Kolonial-)Händler und private Sammler:innen, Kolonialbeamt:innen und Missionare, sondern auch zahlreiche lokale Akteur:innen – allein an Schomburgks Expeditionen waren lokale Führer:innen und Jäger:innen, Dolmetscher:innen, Bot:innen, Diener:innen und bis zu 60 Träger:innen beteiligt.5 Sie alle finden keinen Eingang in die Sammlungskataloge, wo meist nur der (europäische) Sammler namentlich genannt wird. Eine weitere Bezugsquelle für das Museum tat sich 1844 auf, als in Berlin ein zoologischer Garten gegründet wurde, der fortan zahlreiche Tiere nach ihrem Tod an das Zoologische Museum überwies. Kleinere Sendungen und Einzelstücke, die von nah oder fern im Museum eintrafen, wurden oft sofort inventarisiert und aufgestellt, ohne vorher im Eingangskatalog verzeichnet zu werden, größere Sendungen dagegen meist schon. Häufig vergingen anschließend aus Geld-, Personal- oder Zeitmangel Jahre oder Jahrzehnte, bis die Tiere tatsächlich von den Sammlungsmitarbeiter:innen in Augenschein genommen, wissenschaftlich beschrieben und in die Sammlung eingeordnet wurden.
Wenn dies geschah, wurden sie ein weiteres Mal verzeichnet, und zwar im Inventarkatalog, der den Bestand einer Sammlung erfasst. Die Nummer eines Präparats im Inventarkatalog stimmt allerdings nur selten mit der im Eingangskatalog überein, da dort die Nummern chronologisch nach Eingangsdatum vergeben wurden, während der Inventarkatalog ein Präparat dann aufnahm, wenn es in der Sammlung tatsächlich bearbeitet wurde und somit in das ‘Inventar’ der Sammlung einging. Im Inventarkatalog erhielt ein Präparat die Nummer, die zum Zeitpunkt der Bearbeitung im Katalog gerade an der Reihe war – zumindest in der Theorie: In der Praxis war auch das keineswegs durchgängig der Fall.
Als immer mehr naturkundliche Objekte das Museum erreichten, insbesondere in der Kolonialzeit, wurden häufig mehrere Exemplare, die zum damaligen Zeitpunkt ein und derselben Art zugeordnet wurden und denselben Fundort hatten, als sogenanntes Lot unter einer Inventarnummer registriert – und häufig zusammen in einem Alkoholglas aufbewahrt. Diese Praxis wurde später zum Problem, das die Mitarbeitenden in der Herpetologischen Sammlung (ebenso wie in anderen Teilsammlungen) bis heute beschäftigt. Im Jahr 2021 fanden sich in der Sammlung noch immer tausende Gläser, die eine einzige Inventarnummer tragen, aber bis zu hundert Individuen beinhalteten. Die Sammlungsmitarbeiter:innen sind weiterhin dabei, diese Lots auszulösen und den darin zusammengefassten Exemplaren individuelle Inventarnummern zuzuweisen. Hier zeigt sich eindrücklich, wie schwierig es ist, überhaupt präzise Angaben über die Anzahl der Objekte in einer Sammlung zu machen, vor allem wenn wie in diesem Fall viele historische Exemplare in ihrem Bestand sind. Ehemalige Sammlungs- und Verzeichnispraktiken wie die Aufnahme von Lots gehören zu den Gründen, warum bis zur vollständigen Individualisierung und gleichzeitigen Digitalisierung aller Exemplare ihre Anzahl in einer Teilsammlung nur geschätzt werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, welche Folgen die enorme Akkumulation von Objekten insbesondere während der Kolonialzeit für die Sammlungspraxis und die Wissenschaft hatten. Der Anspruch, von jeder Art ein bis zwei Exemplare zusammenzutragen, um sie an einem Ort miteinander vergleichen und gegebenenfalls neue Arten erkennen und beschreiben zu können, führte nicht nur dazu, “dass ein ganz grosser Teil der oft sehr kostspieligen überseeischen Naturaliensendungen in höchst verdorbenem und oft gänzlich unbrauchbarem Zustande ankommt”,6 wie Philipp Leopold Martin, damals Präparator im Museum, 1886 schrieb. Die regelrechte Flut von Naturaliensendungen hatte zudem Auswirkungen auf die Katalogisierung, die uns noch heute vor Probleme stellen; ganz zu schweigen von den ökologischen, sozialen und politischen Auswirkungen des ‘Ecological’ oder ‘Green Imperialism’ vor Ort – Folgen, die ebenfalls bis in die Gegenwart reichen.7 Wenn mehr gesammelt und akkumuliert wurde, als in den Sammlungen überhaupt zeitnah erfasst werden konnte, wird deutlich, was mit der zeitgenössischen Kritik an der ‘Sammelwut’ gemeint ist, die zunächst vor allem eines schaffte: Unübersichtlichkeit. Die Beispiele hierfür sind zahlreich – allein bei der Tendaguru-Expedition (1909-1912), der größten paläontologischen Ausgrabung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, organisiert vom Naturkundemuseum in Berlin, trafen über fünf Jahre hinweg so viele Kisten im Museum ein, dass die Objekte nach und nach fast die gesamten Arbeits- und Sammlungsräume blockierten und Menschen und Arbeiten behinderten.8
Hinsichtlich Schomburgks Objekten stellt sich ebenfalls die Frage: Sind die Tiere, die er aus Guayana an das Museum schickte, dort tatsächlich angekommen? Und sind jene Tiere, die laut Friedrich Beyers Notizen über den (Um-)Weg des Zoos ins Museum kamen, dort heute noch? Um diese Fragen zu beantworten, sind wir bis heute auf die Kataloge angewiesen. Doch wo findet man den ‘jungen Caiman’ – unter den Tieren, für die Schomburgk als Sammler eingetragen ist oder bei den Tieren aus dem Zoologischen Garten? Mit Blick auf den Sammler Schomburgk kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Man findet die Einträge seiner Guayanareise im Inventarkatalog keineswegs direkt aufeinanderfolgend. Das liegt nicht nur daran, dass die Kisten mit Naturalien sukzessive eintrafen (die für den Zoo bestimmten Tiere sogar erst einige Monate nach Abschluss der Reise), sondern auch daran, dass die Tiere erst nach und nach bearbeitet wurden. Die Einträge zu Schomburgks Sammelexpedition sind zum Teil über mehrere Inventarkataloge verteilt, je nachdem, wann ein Tier bestimmt und bearbeitet wurde. Vermutlich verstrichen zwischen dem Eingang der Objekte und ihrer Inventarisierung Monate oder sogar Jahre. Heute kostet es daher viel Zeit und Mühe, einzelne Objekte zu recherchieren und anhand der Kataloge einen Überblick über das gesamte Material, das Schomburgk eingesandt hatte, zu erhalten.
Der Caiman jedenfalls ist derzeit nicht auffindbar. Das kann wiederum verschiedene Gründe haben, die nicht nur mit der Katalogisierung zusammenhängen, sondern auch mit der materiellen Kultur der Naturkunde, mit taxonomischen Revisionen und mit Umstrukturierungen innerhalb der Sammlung. Im Laufe der Zeit wurden immer wieder Inventuren in der Sammlung vorgenommen. Tiere wurden neu bestimmt und wechselten, wenn sie einer anderen Art oder Gattung zugeordnet wurden, ihren Namen und ihren Platz in der Sammlung (das gilt auch für andere Sammlungen). In diesem Fall kommt hinzu, dass der Präparator dem Tier keinen wissenschaftlichen Namen zugewiesen hatte und dass die Tiere aus dem Zoo, die anschließend ins Zoologische Museum kamen, nur selten eine dokumentierte Provenienz mit Angaben zum Sammler und Fundort hatten. In der Sammlung wiederum gingen bisweilen Gläser kaputt, Sammlungsobjekte wurden umgestellt, durch Bombardierungen zerstört, verkauft oder getauscht. Bei manchen fehlt schlicht das Etikett. Solche Informationen sind häufig in den Katalogen unter ‘Bemerkungen’ festgehalten, in Form von Durchstreichungen, neuen Namen, oder ‘Revision’-Stempeln.
In einem Katalog überlagern sich somit mehrere Zeitschichten – und häufig unterschiedliche Handschriften. Verschiedene Personen arbeiteten im Laufe der Zeit mit demselben Katalog, mit je eigener Handschrift und teilweise unterschiedlichen Kodierungen, Abkürzungen, Annotationssystemen. Sich in alten Sammlungskatalogen zurechtzufinden, setzt also ganz spezielles Wissen voraus. So ist im Inventarkatalog der Herpetologischen Sammlung unter ‘ZMB 252’ ein junger Alligator niger (heute Melanosuchus niger) eingetragen, der von Richard Schomburgk in Guayana gesammelt wurde. Alligator niger wurde jedoch früher auch in der Gattung ‘Caiman’ geführt, sodass es durchaus möglich ist, dass es sich bei ‘ZMB 252’ um das gesuchte Exemplar handelt. Die Suche nach einem historischen Präparat setzt also Fachwissen über die wissenschaftliche Taxonomie und Nomenklatur voraus. Der Umgang mit den alten Katalogen setzt zudem häufig Erfahrungswissen, manchmal sogar implizites Wissen voraus. Der Sammlungsmanager Frank Tillack kann anhand der alten Nummern im Katalog das ungefähre Alter mancher Objekte in der Sammlung einschätzen. Zumindest bis zum Zeitraum um 1900 ist es möglich, an den aufsteigenden Nummern den Eingangszeitraum (das Datum wurde damals noch nicht im Katalog eingetragen) grob einzugrenzen. Ab dann aber kann man keine Rückschlüsse mehr von den Eingangsnummern auf ein Eingangsdatum ziehen, weil ab 1900 historische Sammlungen nachbearbeitet und neue Nummern vergeben wurden – ein Umstand, der zu wissen wichtig ist, da es sonst zu Fehlinterpretationen kommen kann.
Der ‘junge Caiman’, über dessen Verbleib wir nichts wissen, bleibt vorerst ein verschollenes Objekt der Sammlung. Dennoch hat die Suche nach ihm und seine Abwesenheit mir neue Erkenntnisse eingebracht, wenn auch andere als gedacht. Der Blick hat sich verschoben, von der Geschichte des Tieres zur Geschichte der naturkundlichen Katalogisierung und der Praxis musealer Sammlungsarbeit. Das führt nicht nur zu der Frage, welche Auswirkungen eine lückenhafte historische Überlieferung für die heutige Arbeit mit Sammlungen hat und wie das Wissen über die Katalogisierungssysteme gespeichert und weitergegeben werden kann. Das lenkt zugleich das Augenmerk darauf, wie wir die Geschichte abwesender Objekte schreiben und sie als Teil der Geschichte des Sammelns sichtbar machen können. Wie viele verschollene und (noch) nicht erfasste Tiere lagern in Museumssammlungen? Die Frage stellt sich vor allem angesichts der massiven Sammelaktivitäten während der Kolonialzeit. Es fällt schwer, konkrete Zahlen für eine Sammlung zu benennen, wenn längst noch nicht alle Tiere erfasst sind, und dadurch fällt es schwer, ein umfassendes Bild ihrer Bestände zu erhalten – woher sie stammen und unter welchen Umständen sie gesammelt, verschickt und in Berlin genutzt wurden. Naturkundemuseen beginnen gerade vielerorts verstärkt, sich mit ihren kolonialen Sammlungsbeständen auseinanderzusetzen. Dazu gehört auch, Ressourcen für Bestandserfassung und historische Forschung zu mobilisieren, um Erwerbsgeschichten, Sammelumstände und Sammlungsgeschichten aufzuarbeiten. Dadurch bekommen Tiere wie der ‘junge Caiman’, die vielleicht nie das Museum erreichten, (noch) nicht beschrieben wurden oder in der Sammlung auf die eine oder andere Art verloren gingen, in der Geschichte kolonialen Sammelns Gewicht und werden sichtbar.
- Das Zoologische Museum, das den Grundstock des heutigen Museums für Naturkunde Berlin bildet, gehörte zur Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.↩
- Der erste nicht numerische Inventarkatalog des Zoologischen Museums, der noch taxonomisch geordnet wurde, wurde zwischen 1824 und 1830 (vermutlich vom damaligen Museumsdirektor Lichtenstein) angelegt. Der erste numerische Inventarkatalog des Museums wurde ca. 1856 von Lichtenstein begonnen und kurz danach von Wilhelm Peters weitergeführt.↩
- Die frühen Kataloge im Museum waren zunächst hauptsächlich taxonomisch gegliedert statt numerisch, teilweise kamen (häufig sehr allgemeine) Herkunftsangaben und Geber hinzu. Mitte der 1850er Jahre wurden in den Sammlungen numerische Kataloge eingeführt, so auch für die Herpetologie; vgl. Sylke Frahnert. “Katalogisieren: Ein Praxisbericht”. In Sammlungsökonomien. Nils Güttler und Ina Heumann (Hg.). Berlin: Kadmos, 2016: 95-108.↩
- Der erste (nicht numerisch angelegte) Katalog der Herpetologischen Sammlung Nomenclator Reptilium et Amphibiorum, herausgegeben von Lichtenstein und von Martens, wurde 1856 publiziert.↩
- Da die meisten dieser Akteur:innen nicht namentlich genannt werden, wissen wir nicht, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, daher werden hier beide Formen aufgenommen; vgl. MfN, HBSB, ZM-S-II-Schomburgk-R-59-r; Richard Schomburgk. Reisen in Britisch-Guiana in den Jahren 1840-1844: Nebst einer Fauna und Flora Guiana’s nach Vorlagen von Johannes Müller, Ehrenberg, Erichson, Klotzsch, Troschel, Cabanis und Andern. Bd. 1 und 2. Leipzig: J. J. Weber, 1847-1848.↩
- Philipp Leopold Martin. Die Praxis der Naturgeschichte: Ein vollständiges Lehrbuch; Erster Teil, Taxidermie oder die Lehre vom Präparieren, Konservieren und Ausstopfen der Tiere und ihrer Teile; Vom Naturaliensammeln auf Reisen und dem Naturalienhandel. Weimar: B.F. Voigt, 1886: 1.↩
- Die ökologischen Folgen von Imperialismus und Kolonialismus wurden bereits in den 1980er Jahren untersucht; vgl. William Cronon. Changes in the Land: Indians, Colonists, and the Ecology of New England. New York: Hill and Wang, 1983; Alfred W. Crosby. Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900-1900. Cambridge: Cambridge University Press, 1986; Richard Grove. Green Imperialism: Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600-1860. Cambridge: Cambridge University Press, 1995.↩
- Zur Tendaguru-Expeditionen im Hinblick auf diese Problematik vgl. Mareike Vennen. “Dinosaurier in Berlin: Transformationen im Berliner Museum für Naturkunde, 1909-1937”. In Dinosaurierfragmente: Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte, 1906-2018. Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini und Mareike Vennen (Hg.). Göttingen: Wallstein, 2018: 166-191.↩