Von Schädlingen zu Ausstellungsstücken

Story Stoffwechselprozesse auf hoher See

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Ratte beim Fressen von Getreide (Präparat im Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe. Foto: H. Zell/Wikimedia. CC BY SA)

Vor welchen Herausforderungen standen Forschungsreisende im 19. Jahrhundert bei der überseeischen Verschiffung von naturkundlichen Objekten und lebenden Tieren? Antworten auf diese Frage kann die Seereise des Botanikers Richard Schomburgk geben, der 1844 mitsamt all seinen gesammelten Pflanzen und Tieren von Britisch-Guayana nach Deutschland übersetzte. Diese Reise erlaubt Einblick in die Praktiken der Ver- und Entsorgung von Tieren und Pflanzen im Zusammenhang mit ihrer Verschiffung über lange Distanzen. Denn während des Transports der Lebewesen änderten sich ihr Nutzen und Wert beständig und zwar in Abhängigkeit von den Verhältnissen an Bord. Dabei ging es meist um Leben und Tod, in einem metabolischen Gefüge aus Fressen und Gefressenwerden. Diese Prozesse sind wiederum Teil der Wege (und Umwege), über die Tiere damals in Zoos oder Museen gelangten.1

Richard Schomburgk, der später Direktor des Botanischen Gartens im australischen Adelaide werden sollte, arbeitete damals als Gartengehilfe in den Königlichen Gärten von Sanssouci, dem Potsdamer Schloss von Friedrich dem Großen, bevor er 1840 bis 1844 seinen Bruder Robert Hermann Schomburgk auf einer Reise in die Kolonie Britisch-Guayana begleitete. Robert führte im Auftrag der britischen Krone eine Expedition zur Vermessung der östlichen und westlichen Grenzen der Kolonie durch – des heutigen Guyanas, das damals Teil des britischen Kolonialgebiets Westindien an der Nordküste Südamerikas war.2 Nach drei Jahren Arbeit hatte Robert Schomburgk die heute als Schomburgk-Linie bekannte Grenze zu Venezuela sowie jene zu Niederländisch-Guayana, dem heutigen Suriname, ermittelt und kartografiert. Richard erhielt seinerseits durch Fürsprache Alexander von Humboldts staatliche Fördermittel: Die preußische Regierung beauftragte ihn mit der Sammlung neuer Flora, Fauna, Mineralien und ethnografischer Materialien für das Zoologische Museum und den Botanischen Garten in Berlin.3 Als er jedoch gegen Ende der Reise, im März 1843, erfuhr, dass in Berlin ein zoologischer Garten eröffnen sollte, begann er unverzüglich auch mit der Sammlung lebender Tiere.4

Der Direktor des Zoologischen Museums und des künftigen Zoologischen Gartens, Martin Hinrich Lichtenstein, blieb allerdings skeptisch:

“[A]uch wenn ich hinreichend Fonds dafür in Händen hätte, würde ich doch Ihnen abrathen, sich auf Ankäufe für bares Geld einzulassen, indem der Transport zu beschwerlich und die Erhaltung der Thiere am Leben von zu vielen kleinen Zufälligkeiten abhängig ist, die man beim Einschiffen und beim Abschließen des Vertrages mit dem Schiffskapitän unmöglich voraussehen kann.”5

Der Transport von lebenden Tieren und Pflanzen über lange Strecken setzt sie in der Tat einer Reihe von Risiken und Gefahren aus. Das trifft erst recht auf die Transporte im 19. Jahrhundert zu. Damals war wenig bekannt über die angemessene Unterbringung und Behandlung von lebenden Tieren während langer Überfahrten und Schomburgk war kein Experte auf diesem Gebiet. Das Kultusministerium schien Lichtensteins Zweifel zu teilen und versagte Schomburgk zusätzliche Mittel zur Beschaffung lebender Tiere. Lichtenstein riet ihm daher, nur diejenigen “kleinen Säugetiere, Vögel und Amphibien” mitzubringen, die “zu einem kleinen Preis zu erwerben sind”.6

Schomburgk trug nichtsdestotrotz eine “kleine Menagerie” zusammen, darunter Papageien, Hokkohühner, Harpyien sowie Schlangen und verschiedene Affenarten. Wie schon Alexander von Humboldt vor ihm versuchte auch er, Zitteraale nach Europa mitzubringen. Allerdings wurde ihm mit seiner tierischen Fracht der Zutritt auf ein Passagierschiff verwehrt, weshalb er per Handelsschiff reisen musste. Im Verlauf der zweimonatigen Überfahrt sollten sich viele von Lichtensteins Befürchtungen bewahrheiten – sowohl in Bezug auf die lebenden als auch die konservierten Lebewesen. Probleme bereitete Schomburgk zunächst seine Sammlung präparierter Fische, Amphibien und Insekten. Selbst tote Tiere verursachten auf den Überseefahrten per Schiff Probleme. Die Logistik der Naturkunde hatte schon Generationen von Forschenden Kopfzerbrechen bereitet: Das organische Material war anfällig für den Befall durch andere Tiere, lief aufgrund von Umweltbedingungen wie Wetter, Seegang oder mitreisender “Schädlinge” wie Insekten, Ratten oder Mäuse ständig Gefahr, zu verrotten, und benötigte meist mehr Platz, Hege und Verpflegung als verfügbar waren.7 Auf Schomburgks Reise verdarb nahezu die gesamte Präparatsammlung aufgrund von minderwertigem Alkohol, was ihn “mit bittern Erfahrungen [und] schmerzlichen und niederschlagenden Gefühlen” zurückließ.8

Seiner lebenden Fracht erging es kaum besser: Zu Schomburgks großer Enttäuschung überlebten die Zitteraale die Überfahrt nicht, obwohl er sie die gesamte Reise über mit Regenwürmern und Süßwasser versorgte. Die letzten zwei starben bei Einfahrt in den Ärmelkanal vor der englischen Küste. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert waren solche Probleme des Transports wohlbekannt. Die Herausforderungen, mit denen Sir Hans Sloane zu kämpfen hatte, sind von Anna Toledano und Paula Findlen ausführlich geschildert worden.9 Seine berühmte Sammlung, die später den Grundstock des British Museum und des Londoner Naturkundemuseums bildete, stammt unter anderem von einem 15-monatigen Aufenthalt in Jamaika in den Jahren 1687 bis 1689. Mit Verbitterung erinnerte er sich später an seinen missglückten Transport von Präparaten zurück nach London – bis auf ein paar vertrocknete Pflanzen verdarb alles. Auch die meisten lebenden Tiere starben auf der Überfahrt, “und so ergeht es den meisten Menschen, die ihre fremdartigen, lebenden Tiere aufgrund von unzureichender Luft, Nahrung oder unangemessener Unterbringung verlieren”.10

Sloanes Sorge um das Wohlergehen seiner lebenden Fracht bildet einen starken Kontrast zum ökonomischen Kalkül und den Mechanismen des transatlantischen Sklavenhandels, der zur selben Zeit in vollem Gange war. (Und auch Schomburgk dürfte selbst nach dem Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1833 seine anhaltenden unheilvollen Auswirkungen mitbekommen haben). Wenn man die Berichte der Naturforschenden über die Pflege und Umsorgung ihrer Tiere und Pflanzen während des Transports liest, fällt es schwer, nicht an die Millionen versklavter Menschen zu denken, die zur selben Zeit über den Ozean verschleppt, gefoltert und in zahllosen Fällen während der Überfahrt ermordet wurden.11 Sicherlich würde eine ausführliche Diskussion des Zusammenhangs zwischen Sklavenhandel und Naturkunde in Bezug auf den Transport lebender ‘Fracht’ den Rahmen dieses Textes sprengen. Und doch ist es wichtig, die Verbindung zwischen beiden zu sehen: Anti-Schwarzer Rassismus war die Voraussetzung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Unternehmungen, in deren Folge bestimmte Gebiete wie auch menschliche Körper zugänglich, ausbeutbar und zum Töten freigegeben wurden. Was später in den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts formalisiert wurde, existierte bereits zu dieser Zeit in Form von ‘natürlichen’ Klassifikationssystemen, die nur bestimmte Menschen für vollwertige Menschen einstuften.12 Bei der Betrachtung der Schwierigkeiten, die sich Schomburgk bei der Konservierung und Lebenserhaltung von Tieren und Pflanzen stellten, sollte es also zugleich auch darum gehen, inwieweit seine Auswahl im Feld in Bezug auf ihre Funktion, ihren Wert und Status durch zeitgenössische Klassifikationssysteme beeinflusst war.

An Bord des Handelsschiffs waren Schomburgks Tiere und Pflanzen Teil eines komplexen Ökosystems von Leben und Tod, Fressen und Gefressenwerden, da auf dem begrenzten Raum des Schiffs Tiere und Menschen um begrenzte Ressourcen konkurrierten. Daher musste er immer wieder Entscheidungen hinsichtlich ihres Werts, ihrer Funktion und ihres Status treffen. Die lebenden Palmen, die Schomburgk in seiner Privatkabine aufbewahrte, wurden beispielsweise stark von Mäuse- und Rattenfraß in Mitleidenschaft gezogen.13 Schomburgk machte indes aus der Not eine Tugend und fügte diese “Schädlinge” seiner “kleinen Menagerie” für den Berliner Zoo hinzu, während er die toten “Menageriestücke” an die Schiffsnager verfütterte. Andere Tiere wie jene, die während der letzten Tage der langen Reise von Georgetown (Guyana) nach London starben,14 wurden in Berlin direkt an zoologische Sammlungen überstellt. Dies traf auch auf Schomburgks Zitteraale zu: Einer von ihnen wurde an das Zoologische Museum (heute das Museum für Naturkunde Berlin) übergeben, wo er noch heute unter der Inventarnummer 4062 in der Fischsammlung aufbewahrt wird. Ein zweites Exemplar (ZMB 4061), das sich zunächst ebenfalls in der Obhut des Museums befand, wurde später, im Jahr 1892, an die Zoologische Lehrsammlung (ebenfalls Teil der Friedrich-Wilhelms-Universität) übergeben, wo es als Lehrobjekt zu zoologischen Demonstrationszwecken diente.

Am Ende überlebten nur wenige Tiere die Überfahrt. Wir wissen von neun Tieren, darunter mehrere Hokko- und Jakuhühner, sowie ein Exemplar der berühmten Harpyie, eine Riesenschlange und ein über einen halben Meter Länge messender grüner Leguan aus Guyana. Sie alle wurden im Zoologischen Garten untergebracht. Die meisten überlebten dort allerdings nicht sehr lange und kamen bald darauf als Präparate ins Zoologische Museum Berlin, so auch besagter Grüner Leguan (Iguana iguana).

Dieser Rückblick auf die Transportgeschichten naturkundlicher Objekte im 19. Jahrhundert vermittelt einen Eindruck von der Art und Weise, wie Tiere einst zu Bestandteilen von Sammlungen wurden – darunter auch solche, die ursprünglich gar nicht als Sammlungsobjekte vorgesehen waren. Angesichts all der logistischen Einschränkungen und Hindernisse, mit denen Schomburgk und andere Naturforschende zu jener Zeit zu kämpfen hatten, konnten “Schädlinge” durchaus zu Zootieren und wissenschaftliche Pflanzenproben zu Tierfutter werden. Die – oftmals improvisierten – überseeischen Transportpraktiken der Naturkundler:innen können so als metabolische Verhältnisse begriffen werden, die die Klassifikation, den Wert und die Behandlung von Tieren auf See immer wieder neu bestimmten.


  1. Siehe “Logistical Natures: Trade, Traffics, and Transformations in Natural History Collecting”, Filippo Bertoni, Mareike Vennen, Ina Heumann und Tahani Nadim (Hg.), erscheint voraussichtlich Ende 2022.
  2. Seine Erfahrungen mit dem Transport lebender und toter Exemplare aller möglichen Arten sind in seiner mittlerweile archivierten Korrespondenz mit dem Naturkundemuseum in Berlin sowie einem Reiselogbuch in drei Bänden festgehalten. Siehe Richard Schomburgk. Reisen in Britisch-Guiana in den Jahren 1840-1844. Leipzig: J.J. Weber, 1847-48.
  3. Im Rahmen dieser preußisch-britischen Expedition war Richard Schomburgk mit der Sammlung von Pflanzen, Samen und weiteren Objekten für den Botanischen Garten und die Königlichen Museen in Berlin beauftragt: “[S]eine Majestät der König [haben], auf unmittelbares Ansuchen des Garten-Gehülfen in Sans-souci, Richard Schomburgk, mittels Allerhöchster, an den Herrn Finanz-Minister und an mich unterm 10ten October 1840 erlaßener Ordre dem R Schomburgk als Beihülfe zu der von ihm unternommenen Reise nach der Küste Guiana’s auf zwei Jahre jährlich 600 rt [Reichstaler] und außerdem noch als Reise Entschädigungs-Kosten ein für allemal 600 rt zu bewilligen geruht, um auf seiner Reise besonders für den hiesigen botanischen Garten und außerdem auch für die naturhistorischen Institute hierselbst Pflanzen, Sämereien und andere geeignete Gegenstände zu sammeln und einzusenden.” Im ersten Jahr erhielt er 1.200 Reichstaler, im zweiten Jahr weitere 600 Reichstaler; siehe MfN, HBSB, Zool. Mus. S I, Schomburgk, Ri, Bl. 44.
  4. In den Besitz der Tiere gelangte er durch Ankauf und Tauschgeschäfte; siehe Schomburgk, 1847-48, Bd. II: 510.
  5. M.H. Lichtenstein an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal Angelegenheiten, 20.06.1843, MfN, HBSB, Zool. Mus. S I, Schomburgk, Ri, Bl. 44.
  6. Ebd.
  7. Siehe z.B. Anne Mariss. “‘… for fear they might decay’. Die materielle Prekarität von Naturalien und ihre Inszenierung in naturhistorischen Zeichnungen”. In Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften, Annette Cremer und Martin Mulsow (Hg.). Köln u.a.: Böhlau 2016: 137-148. https://doi.org/10.7788/9783412510022.137.
  8. Schomburgk, 1847-48, Bd. II: 363.
  9. Siehe Paula Findlen und Anna Toledano. “The Materials of Natural History”. In Worlds of Natural History, Helen Anne Curry et al. (Hg.). Cambridge: Cambridge University Press, 2018: 151-169. https://doi.org/10.1017/9781108225229.010. Siehe außerdem: James Delbourgo. Collecting the World: Hans Sloane and the Origins of the British Museum. Cambridge: The Belknap Press of Harvard University Press 2017.
  10. Siehe Hans Sloane. A Voyage to the Islands Madera, Barbados, Nieves, S. Christophers and Jamaica, 2 Bände, London: Gedruckt von B.M. im Auftrag des Autors, 1707-25, Bd. II: 346. Siehe außerdem: Christopher M. Parsons und Kathleen S. Murphy, “Ecosystems under Sail: Specimen Transport in the Eighteenth-Century French and British Atlantics”. Early American Studies (Herbst 2012): 503-539. M. Hunter, A. Walker und A. MacGregor (Hg.). From Books to Bezoars: Sir Hans Sloane and His Collections. London: British Library, 2012.
  11. Um mehr über den transatlantischen Sklavenhandel (bzw. Dreieckshandel) zu erfahren, siehe z.B. Christina Sharpe. “The Ship: The Trans*Atlantic”. In In The Wake: On Blackness and Being. Durham: Duke University Press, 2016: 25-67. https://doi.org/10.1215/9780822373452-002. Saidiya Hartman. Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route. New York: Farrar, Straus, and Giroux, 2007; Jane Webster. “The Zong in the Context of the Eighteenth-Century Slave Trade”. The Journal of Legal History 28, Nr. 3 (2007): 285-298. https://doi.org/10.1080/01440360701698403. Jeremy Krikler. “A Chain of Murder in the Slave Trade: A Wider Context of the Zong Massacre”. International Review of Social History 57, Nr. 3 (2012), 393-415. https://doi.org/10.1017/S0020859012000491.
  12. Siehe z.B. Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis. Durham: Duke University Press, 2015.
  13. Da seine Mittel lediglich zum Kauf zweier Ward’scher Kästen für die Verwahrung der wertvollen Orchideensammlung ausreichten, verstaute er die Palmen zuerst in einem Beiboot und später, als sich ihr Zustand verschlechterte, in seiner Privatkajüte. Doch nicht einmal diese komfortable Unterkunft konnte sie vor dem Schaden bewahren, den Mäuse und Ratten anrichteten. Schomburgk, 1847-48, Bd. II: 510.
  14. Schomburgk reiste auf einem Handelsschiff von Georgetown nach London, wo die Tiere auf ein weiteres Schiff verladen und erst nach Hamburg und von dort aus nach Berlin weiter transportiert wurden. Einzelheiten darüber, wie genau die 21 Kisten mit lebenden Pflanzen und 11 Kisten mit lebenden Tieren an Bord verstaut und versorgt wurden, sind mir bislang nicht bekannt.
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